Intimität auf Bahnreisen: Entgleisung im ICE
Ganz Deutschland live im Großraumwagen: Die Zugfahrt ist zum Event geworden, und alle tun, was sie im Fernsehen lernen - sie machen ihr Privates öffentlich.
Ein bierfröhliches Trio aus dem Bergischen Land assimiliert kurzerhand den vierten Mitfahrer am Tisch für die nächsten sieben Rommé-Runden, eine Schulklasse aus dem Ruhrgebiet rennt aufgeregt den Gang rauf und runter, und ein paar Bundeswehrsoldaten in der Grundausbildung kommentieren lautstark so ziemlich alles, was es zu kommentieren gibt. Wer viel mit der Bahn unterwegs ist, hat auch viel Zeit, die Menschen zu beobachten, die da in den Zügen kreuz und quer durch die Republik bewegt werden.
Ein analytischer Blick auf die Mitfahrer und -fahrerinnen lohnt, denn die Zustände im Großraumwagen lassen durchaus den einen oder anderen Rückschluss auf eine gesamtgesellschaftliche Verfasstheit zu.
Eine Fahrt im ICE von Berlin nach Köln, mit Halt in Wolfsburg, Hannover, Hamm, Hagen und Wuppertal bietet also nicht nur geo-, sondern auch demografisch einen interessanten Schnitt durchs Land. Das Abteil als modellhaftes Abbild der Gesellschaft gewissermaßen. Ganz Deutschland ab 29 Euro.
Unser Alltag unterscheidet sich durch eine weitreichende, wenn auch oberflächliche Individualisierung und Optionalisierung von dem unserer Eltern und Großeltern. Überall, vom Dressing auf dem Salat über die Größe des Latte macchiato bis hin zur Farbe des Personenkraftwagens können und müssen wir fortwährend über die Kleinigkeiten unseres Lebens entscheiden. Customizing nennt man dieses Anpassen des Produkts an die Wünsche des Kunden in der Werbesprache. In Deutschlands modernstem Verkehrsmittel aber müssen wir Customers zurückstecken, denn die Begrenztheit der individuellen Gestaltung liegt im Bahnverkehr in der Natur der Sache.
Als würde die Bahn im Auftrag des Statistischen Bundesamts agieren, werden hier anhand der Reservierungsbestätigung die unterschiedlichsten Biografien und kulturellen Hintergründe, Generationen und Lebenserfahrungen lustig durcheinandergemischt und zu ein paar Stunden gemeinsamen Seins ohne viel Konfigurations- und Ausweichmöglichkeiten verdonnert.
Das war früher, als Fahrten des Fernverkehrs noch den Hauch des Besonderen hatten, eine einfache Sache. Je nach Alter und Empfindlichkeit saß man in Fahrtrichtung oder nicht, richtete die Konzentration auf die vorbeiziehende Landschaft und harrte der Dinge, die da vorbeikamen. Die Generation Bahn 2.0 hingegen konzentriert sich im Wesentlichen aufeinander, die Fahrt mit dem Zug wird, analog zu Reisen mit Tuifly oder Easyjet, zu einem Event. Der Intercity-Express als totales Erlebnis.
Dem Unternehmen selbst wird diese Entwicklung in den eigenen Waggons nicht unbedingt ungelegen kommen, schafft sie doch eine emotionale Bindung an das zu verkaufende Produkt. Und verkauft wird eben nicht nur die Strecke Berlin-Köln, sondern ganz Deutschland ab 29 Euro, inklusive Familienanschluss ans ganze Volk.
Wo früher Gespräche im Flüsterton geführt wurden, man in der Schlange vor der Toilette betreten die Deutschlandkarte neben der Tür betrachtete und allenfalls bei Abfahrt des Zuges noch einmal waghalsig den Kopf aus dem Fenster streckte, herrscht heute eine eher bizarre Vergewisserung der kollektiven Existenz.
Nirgendwo ist im öffentlichen Raum das Unbehagen im anonymen Nebeneinander so greifbar wie zwischen den Hartschalensitzen eines Schnellzuges. Da wird es vor lauter Beklommenheit auf einmal ganz kuschelig zwischen wildfremden Passagieren, die sich fünf Minuten zuvor auf dem Bahnsteig vermutlich noch keines Blickes gewürdigt haben.
Ob es die fröhliche Kartenspielrunde, die Schulklasse oder die Gruppe Bundeswehrsoldaten sind: Eigentlich machen alle genau das, was sie jeden Tag im Fernsehen vorgegeben bekommen - sie machen ihr Privates öffentlich.
Die in endlosen Reality-Formaten bis zum Erbrechen zelebrierte Auflösung von Öffentlichem und Privatem hat im ICE nämlich schon längst ihren Niederschlag gefunden. Die Fahrt mit der Bahn wird zu einer Castingshow auf der Schiene, und dem zahlenden Fahrgast ist durchaus bewusst, dass das Zeitfenster für den Recall nur bis hinter Wuppertal reicht.
Da mutiert ein Kartenspiel zur Supertalentshow, und die Mädels bestreiten den Gang zum Klo, als wären sie von Heidi Klum vor diese Herausforderung gestellt worden. Für diejenigen, die, wie die soldatischen Kameraden, ohne besondere Talente oder körperliche Reize in der Show gelandet sind, ist immer noch ein Platz in der Jury frei.
So kommentiert denn auch ein ganzes Bataillon kleiner Dieter Bohlens mit einer Tüte Chips in der einen und einer Dose Bier in der anderen Hand mehr oder weniger unflätig all die aufgeregten aufgebrezelten Annemarie Eilfelds, die sich im Viertelstundentakt in kleinen Grüppchen in ihren Hiphop-Nicki-Anzügen zum Klo kichern.
Während man früher die Mitfahrer allenfalls geruchstechnisch mit Leberwurstbroten oder hartgekochten Eiern drangsalierte, hat sich in den Zügen von heute vor allem die Geräuschbelastung um ein Vielfaches erhöht. Es herrscht ein kontinuierlicher zwanghafter Mitteilungsdrang, der sich nicht nur in den andauernden Positionsmitteilungen per Mobiltelefon manifestiert.
Bis zum Zielbahnhof informiert der Zugchef gefühlte zwanzigmal auf Deutsch und auf Deutsch klingendem Englisch über möglicherweise noch zu erreichende Anschlusszüge, die Highlights des gastronomischen Services im Bordbistro und den Namen der Kollegin, die in der ersten Klasse kleine Snacks und Getränke gerne auch am Platz serviert. Geselligkeit und gute Laune, wohin man den Blick auch wendet!
Als Tyrannei der Intimität beschrieb schon 1974 der amerikanische Soziologe Richard Sennett die Aushöhlung des delikaten Gleichgewichts zwischen öffentlicher Sphäre und Privatsphäre. Die Intimität läuft auf die Lokalisierung der menschlichen Erfahrung in der nächsten Umgebung heraus, so Sennett. Die unmittelbaren Lebensumstände gewinnen eine überragende Bedeutung, und die Menschen setzen einander unter Druck, um jegliche Barrieren einer vermeintlichen Geselligkeit aus dem Weg zu räumen.
Die Ehrfurcht vor der Reise als solcher ist mit zunehmender Mobilität dem allgegenwärtigen Anspruch auf dauerhaftes Entertainment gewichen. Schon der Fahrkartenkauf bei Tchibo, Lidl oder Ebay wird zum Ereignis stilisiert. Für 29 Euro will man schließlich auch was erleben. Beim Event ICE ist der Weg längst nicht mehr Teil des Ziels, er will mit Ablenkung und Unterhaltung gefüllt werden.
Während im Wahlkampf die Themen Datenschutz und Privatsphäre gerade hochgekocht werden, wird sich im kleinen Mini-Deutschland zum Supersparpreis verbrüdert und verbündet, was das Zeug hält.
Wer sich diesem Druck nicht aussetzen will und trotzdem auf das Auto verzichten möchte, braucht viel Geduld - und gute Kopfhörer!
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