: Ins schwärzere Schwarz
■ Im Kaifu-Art-Center wird ohne die Hilfe von Augen gesehen
Der erste Schritt in die Sinnenfinsternis im Kaifu-Art-Center ist der in einen Schwarzlicht-beleuchteten Raum. Das schon sehr dunkel. Doch die wirkliche Finsternis beginnt nach zwei weiteren Vorhängen. Richtig dunkel. Kein Zustand an den man sich nach ein paar Minuten gewöhnt, nein es ist stockfinster. Mit Großstadtnächten hat das nichts zu tun. Schon das ist nicht leicht zu verarbeiten. Doch der neue Eindruck ist vielschichtiger, denn mit der Finsternis schwinden auch andere Verläßlichkeiten: Asphalt unter den Füßen und Motorengeräusche im Ohr weichen Sand und Vogelgezwitscher. Eine Leine an der sich die rechte Hand entlangfingert, wird unser neuer und einziger Freund für die nächsten zwanzig Minuten. Der Eintritt in eine andere Welt. Wunderbar!
Langsam geht es daran vorwärts, bis die Leine von Skulpturen und Installationen unterbrochen wird. Man ertappt sich, wie man sie beim Ertasten der Objekte nicht loslassen will. Vertrauen in die Dunkelheit und die eigene Fähigkeit, damit umzugehen wächst nur langsam.
So entgehen einem vielleicht auch manche Ausstellungsbeiträge: 21 blinde und nichtblinde Künstler haben unterschiedlichste Objekte für dieses Projekt von Blinde und Kunst e.v. und Kaifu-Art-Center gestaltet. Neben traditionellen Skulpturen findet man im Dunklen – oder eben auch nicht – Tastlandschaften, halbplastische Papierarbeiten, Duftobjekte und akustische Installationen. In die ersten Objekte greift man geradezu zwangsläufig: Seidenblumen und eingepackte Puppen sind relativ schnell erkannt. Die Identifikation eines Stückes Fell bedarf dagegen des Durchhaltens über den ersten Eindruck von Ekel und Überraschung hinaus. Und wer sagt mir eigentlich, daß das eine nicht wirklich ein alter Hüftknochen war? Manche Objekte erfordern Mut: Um etwas an dem Lautsprecher zu essen, der einen zu Tisch ruft, muß man das Seil verlassen. Angst weicht Freiheit. Direkt am Weg: Ein begehbares Musikinstrument, das Töne je nach Auftrittsort erzeugt.
Nicht nur die Prioritäten der Sinneswahrnehmung verschieben sich allmählich. Man beginnt auch Kategorien zur Beurteilung des Wahrgenommenen zu hinterfragen. Die Oberflächenbeschaffenheit einer Skulptur scheint nun wichtiger als etwa ihre Proportionen. Andere Besucher werden neben der Stimme durch ihre (Nicht-) Scheu vor Nähe erkennbar. Schwarzen Kaffee trinkt man dann gemeinsam mit ihnen im Cafe Noir, denn Milch in die Tasse zu bekommen wäre ein zusätzliches Problem. Der Gesprächspartner am Tisch ist außer Sichtweite, aber trotzdem greifbar. Sehr anders. Die Dunkelheit verbindet wie eine wabernde Masse. Und so sitzen wir noch lange im Dunkeln, singen, riechen, reden, fühlen, trinken, hören und denken über Hüftknochen nach.
Matthias von Hartz
Kaifu-Art-Center, Bundesstr. 107, Mi - So, 16 bis 20 Uhr, bis 31. August
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen