piwik no script img

Indien braucht den Kaschmir-Krieg

Die Spannungen mit Pakistan haben mit Kaschmir selbst wenig zu tun / Nach dem Debakel in Sri Lanka will Indien sein Selbstvertrauen zurückgewinnen  ■  Von Dominic Johnson

Die Situation in Kaschmir blieb am Wochenende weiterhin äußerst gespannt. Moslemische Separatisten entführten am Freitag den Chef der Kongreßpartei des Staates. Indien verlegte weitere Truppen an die Grenze und brach alle Sportkontakte zu Pakistan ab. Die Polizei eröffnete das Feuer auf eine Demonstration von Kaschmirern und verwundete sechs Menschen. Am Montag wurde die Ausgangssperre für wenige Stunden aufgehoben, damit die Bevölkerung einkaufen konnte.

An Kaschmir selbst liegt es kaum, daß die Spannungen zwischen Indien und Pakistan in jüngster Zeit so angewachsen ist. Die Aktivitäten der „Jammu & Kashmir Liberation Front“ stellen kaum eine ernsthafte Gefahr für die indische Union dar. Nicht die Einheit Indiens ist auf dem Spiel. Vielmehr geht es um das indische Selbstvertrauen.

Indiens Außenpolitik, von der Kongreßpartei des Staatsgründers Nehru, der berüchtigten Premierministerin Indira Gandhi und ihres Sohnes Rajiv Gandhi geprägt, gründet traditionell auf der Beherrschung der Nachbarstaaten. Indische Diplomaten legen das Konzept so dar: Die kleineren Staaten wie Nepal, Bhutan oder die Malediven können sowieso nicht selbständig existieren. Der Erzfeind China soll sich möglichst mit sich selbst beschäftigen; wenn nötig, wird dem durch Unterstützung tibetanischer Rebellen nachgeholfen. Birma ist diplomatisch uninteresssant, Sri Lanka wird nur durch indische Hilfe zusammengehalten. Afghanistan, einst beliebtes Sommerurlaubsziel für begüterte Familien in Delhi, wird als gemeinsame Angelegenheit Indiens und der Sowjetunion betrachtet. Bleibt Pakistan, das 1947 von den britischen Kolonialherren ins Leben gerufen wurde und dessen Legitimität damit von vornherein anzuzweifeln ist. 1974 wurde Ost-Pakistan durch indische Intervention zum selbständigen Staat Bangladesch. In den 80ern, so Indiens Selbstverständnis weiter, wurde Pakistan von den USA hochgerüstet und zur Destabilisierung Afghanistans und Indiens (dieses durch Unterstützung von Rebellen im Punjab und Kaschmir) genutzt. Es stellt also einen Störfaktor in Asien dar.

Dieses Weltbild ist im Grunde stabil. Angeknackst wurde es jetzt nicht durch Pakistan - den traditionellen Feind sondern durch die mißglückte Intervention in Sri Lanka. Bis zu 100.000 Soldaten wurden dort in den letzten Jahren eingesetzt, um den Bürgerkrieg zwischen Singhalesen und Tamilen zu beenden und Indien als Friedensstifter zu profilieren. Das Friedenskonzept basierte auf der Annahme, daß die Tamilen die indischen Truppen als Befreier begrüßen und demgemäß den indischen Plänen vorbehaltlos zustimmen würden. Da diese Pläne jedoch die Entwaffnung der tamilischen Milizen vorsahen, gingen sie schief: die „Liberation Tigers of Tamil Eelam“ nahmen den bewaffneten Kampf gegen Indien auf. Zuerst wurden sie von den indischen Militärs belächelt; die Kampagne wurde als eine Art größeres und realistischeres Sommermanöver für unausgebildete Truppen betrachtet. Doch am Ende verloren die Inder immer mehr Soldaten, und das Selbstverständnis Indiens als Regionalgroßmacht geriet ins Wanken.

Das sich abzeichnende Fiasko war ein Grund für die Wahlniederlage der von Rajiv Gandhi geführten Kongreßpartei bei den Wahlen 1989. Daran konnte auch die gleichzeitig durchgeführte Destabilisierung Nepals nichts mehr ändern. Gegen Nepal verhängte Delhi eine Wirtschaftsblockade, weil die Regierung in Katmandu chinesische Waffen gekauft hatte und sich damit in indischen Augen zum Verräter stempelte.

Als V. P. Singh Ende 1989 die Regierung übernahm, wurde von manchen eine Änderung der Außenpolitik erwartet. Doch Singh setzte den Kurs fort: die Konfrontation mit Nepal wurde intensiviert. Die Wirtschaftsblockade führte dort zu einer schweren Krise, die in landesweiten Unruhen, einem Massaker an Demonstranten und schließlich zu einer grundlegenden politischen Reform gipfelte. Diese Meisterleistung der klassischen indischen Diplomatie beruhigte die Zweifler in Delhi. Gleichzeitig kehrten die letzten indischen Truppen mit Schimpf und Schande aus Sri Lanka zurück: dieses Kapitel war also abgehakt und konnte als Fehlleistung der vorherigen Kongreß-Regierung abgetan werden.

In dieser Situation ist die Rückorientierung auf Pakistan eine logische Konsequenz. V. P. Singh ist nämlich auf Unterstützung durch die rechtschauvinistische BJP angewiesen. Die BJP träumt von einer hinduistischen Hegemonie über ein Großindien und macht seit längerem gegen die moslemische Minderheit mobil. Pakistan, der Staat der Moslems, ist für sie das Feindbild schlechthin. Da Singh nicht den Anschein erwecken darf, die BJP wäre die treibende Kraft in der Außenpolitik, muß er selber in die diplomatische Offensive gehen. Und nicht zuletzt reden indische Diplomaten öfter davon, daß man es den Pakistanis wieder einmal zeigen müsse.

Außerdem drängt das Militär darauf, das Sri Lanka-Debakel vergessen zu machen. Die hochausgebildeten und hochgerüsteten indischen Streitkräfte, die 1960 China schlugen, dreimal gegen Pakistan siegreich waren und entscheidend dazu beitrugen, daß sich Afghanistans Najibullah an der Macht halten konnte, wollen ihre Fähigkeiten wieder unter Beweis stellen. Hier spielen auch die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Regionalkommandos eine Rolle. Die Kommandeure der Einheiten im Nordwesten, an der Grenze zu Pakistan, wollen den Versagern von Sri Lanka zeigen, wie man es richtig macht. Sie wollen also nicht in einen Guerillakrieg verstrickt werden, sondern selber die Initiative ergreifen.

Das Vorpreschen der BJP gefällt ihnen jedoch nicht. Die aufgeregten Deklarationen von V. P. Singh der letzten Tage haben die Generäle mit Zurückhaltung aufgenommen. Die Armeeführung will es sich nämlich nicht mit der jetzt oppositionellen Kongreßpartei verderben. Außerdem kann sie es sich nicht leisten, zum Spielball politischer Interessen gemacht zu werden, und deshalb muß sie den Anschein vermeiden, sie handele unter Druck der BJP-Militanten. Ein militärischer Konflikt wird also wahrscheinlich begrenzt bleiben. Trotzdem: Die Zeichen stehen auf Sturm.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen