: In jeder Bewegung steckt eine Erwartung
Zum Abschluss des Movimentos-Festivals in Wolfsburg: Mit „Vacant“ zeigt Saburo Teshigawara, der Philosoph der Zeit unter den Choreografen, eine Geschichte über das Zögern
Am Anfang von „Vacant“ stand ein Widerspruch. Jahrelang hatte der japanische Choreograf Saburo Teshigawara den Plan, mit der Musik von György Ligeti zu arbeiten. Drei kürzere Kompositionen suchte er schließlich aus und fühlte doch zugleich: „Eigentlich ist es unmöglich, dazu ein Tanzstück zu machen. Die Musik ist so vollkommen, man braucht keine physische Aktion mehr. Aber gerade solche Widersprüche brauche ich am Anfang eines choreografischen Prozesses.“ Das erzählte er nach der Premiere von „Vacant“ in Genf Mitte Mai.
Tatsächlich ist „Vacant“, mit dem das Ballett du Grand Théatre de Genève ab 2. Juni auf dem Festival Movimentos in Wolfsburg gastiert, ein beeindruckendes Gruppenstück geworden, das seinen eigenen Entstehungsprozess dokumentiert: Über den Umgang mit Verunsicherung und Zweifel. Vor allem am Anfang bewegen sich die Tänzer so vorsichtig, tastend, beinahe ängstlich, dass man hinter jeder Bewegung das Fragende und Suchende spürt. Hände, Arme lösen sich vom Körper, dringen vor in den Raum und falten sich wieder zurück, Körper wenden sich ein Stück, halten an, nehmen die Gegenrichtung ein.
Je länger man dem zuschaut, umso mehr entsteht ein Gespür für die vielen Punkte – Handgelenke, Ellbogen, Schultern, Halswirbel, Hüfte, Knie, Fußgelenke –, an denen Entscheidungen über die Richtung getroffen werden können. Überall dort setzen Impulse an, die durch den ganzen Körper schlingern, das Bild verändern. Wo ein solches Fließen seinen Ausgang nimmt und wo es endet, wann es sich beschleunigt und wann verlangsamt, was die Richtung vorgibt und was folgt, wie lang oder kurz es ist: All das verändert sich ständig.
Im Lauf des Stücks kommt immer mehr Dynamik und Raum in die Bewegung hinein, die Spannungsbögen werden weiter, das Gefühl des Kleinteiligen und Zögerlichen verliert sich. Gegen Ende werden die Gesten mit ganz anderer Entschiedenheit und Dringlichkeit vorgetragen; man spürt, wie die Zeit den Tänzern davonzurasen beginnt, und jetzt, wo sie endlich wissen, wohin sie wollen, überstürzen sich die Formulierungen.
„Vacant“ ist die zweite Choreografie, die Teshigawara, der in Tokio seine eigene Kompagnie Karas unterhält, mit dem Genfer Ballett erarbeitet hat. „Für Tänzer ist Bewegung eigentlich immer sehr einfach, sie sind trainiert. Aber ich fordere sie zu einem Risiko auf, hinauszugehen über das, wo sie sich sicher sind“, beschreibt er den Beginn der Probenarbeit. „Bewegt euch nicht glatt und reibungslos, legt eure Gewohnheiten und die Informationen, die euch vertraut sind, ab, habe ich ihnen gesagt. Diese Arbeit über das Zögern, Erstaunen, Zweifel, Fragen lässt uns nicht nur etwas darüber erfahren, wie wir tanzen, sondern wie wir im Leben stehen.“
Saburo Teshigawara, 1953 in Tokio geboren, wurde mit Solos und den Stücken von Karas in Europa Anfang der 90er-Jahre bekannt. Eine Zeit lang arbeitete er am TAT in Frankfurt und mit der Compagnie von William Forsythe. Dieses Jahr wurde er Professor an der Universität Rikkyo in Japan für ein neues Department: Bildende Künstler, Filmer, Tänzer, Performer, Mediziner, Philosophen, Psychologen, alle tragen verschiedene Ansätze über den Blick auf den Körper zusammen. Das entspricht Teshigawaras eigener Vita, insofern er als Bildhauer begann, bevor er über die Performance zum Tanz kam. Legendär ist die Geschichte, wie er sich in einem Erdloch eingrub und seitdem den lebendigen Körper und sein Verhältnis zum Raum als sein plastisches Material begreift.
Saburo Teshigawara ist ein kleiner und zierlicher Mann mit einem Kinnbärtchen; auf der Bühne allerdings wirkt er groß, da sind sein Zugriff auf den Raum, der Fluss der Energie durch seinen Körper so präsent, dass davon allein die Wahrnehmung bestimmt wird. Im Gespräch dagegen nimmt er sich zurück und denkt lange nach vor seinen Sätzen. Was er dabei immer wieder herzustellen sucht, ist der große Zusammenhang. „Tanz“ meint für ihn keine geschlossene Kunstform oder Gattung, sondern mehr die Verdichtung einer Haltung der Aufmerksamkeit. „Wir benutzen unseren Körper immer, wenn wir gehen, reden, essen; jede Minute wachsen wir. Das Training ist nur ein Teil davon.“ Die Tanzcommunity und ihre Interessen erscheinen ihm deshalb oft ein zu begrenzter Raum, in dem er sich nicht wiederfindet.
Ob er mit seinen eigenen Kompagnie arbeitet, Solos für sich entwickelt oder für große Ballette choreografiert: Immer bewegt ihn die Suche, der Kontrolle der Bilder und Vorstellungen zu entkommen und nur dem zu folgen, was tatsächlich geschieht. Das ist zwar die Arbeit an einem ewigen Paradox, denn natürlich weiß auch er: „Ohne Vorstellungen und Bilder kann man nicht leben. Denken, fühlen, reden, alles ist auf Vorstellungen angewiesen. Aber wir glauben zu sehr an die Macht der Bilder. Wir haben mehr Fähigkeiten und Sinne.“ Er hat mit blinden Tänzern gearbeitet, um an eine Schicht der Wahrnehmung zu kommen, die nicht schon von Bildern besetzt ist. Mit „Vancant“ aber ist er diesem Ziel, die Bewegung von allen äußeren Belegungen zu lösen und doch von etwas erzählen zu lassen, sehr nahe gekommen.
Was an allen seinen Stücken auffällt, ist seine Modulation der Zeit. „Wenn nur der leere Raum existiert, ohne weitere Informationen, dann kann der Körper von der äußeren Zeit Abstand nehmen und sich auf das innere Gespür für die Zeit besinnen“, sagt er. Tatsächlich entsteht durch diese Herangehensweise oft der Eindruck, dass jeder Tänzer auf der Bühne seine eigene Zeit mitbringt, dehnen und zusammenziehen kann und erst durch das Bedürfnis, zwischen diesen Parallelwelten eine Kommunikation herzustellen, die Notwendigkeit der Synchronisation der Zeiten entsteht. Auch „Vacant“ lebt aus der Spannung in diesem Prozess der Synchronisierung. Erst am Ende scheinen alle in der gleichen Zeit angekommen.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Das Festival Movimentos präsentiert das Ballet du Grand Théâtre de Genève mit „Vacant“ von Saburo Teshigawara und „Loin“ von Sidi Larbi Cherkaoui in Wolfsburg, 2. bis 5. Juni. Info unter www.movimentos.de