10 Jahre Postkommunismus (4): Die DDR-Oppositionellen des Revolutionswinters 1989/90 haben ihre Leistungen banalisiert: In der Falle der eigenen Einfälle
Aus dem Mittelalter ist die Anekdote überliefert: Eine Schildwache, die wie üblich auf dem Wachturm der Stadt nach Feinden ausspähte, beschloss, der Stadt einen Streich zu spielen und im tiefsten Frieden das Anrücken der Feinde zu melden. Der Erfolg war überwältigend. Nicht nur lief die ganze Stadt zu den Mauern, am Ende lief die Schildwache selbst.
Es ist ein durchaus bekanntes Phänomen in der Geschichte, den eigenen Einfällen in die Falle zu gehen und am Ende den selbst in die Welt gesetzten Gespinsten zu glauben. Wenn man dieser Tage den Diskussionen um die Einschätzung der deutschen Revolution der Jahreswende 1989/90 folgt, dann will es einem manchmal scheinen, als ob hier ein ähnliches Phänomen anzutreffen sei. Als hätten die Oppositionellen damals am Runden Tisch insgeheim beschlossen, der Nachwelt vorzugaukeln, dass die Revolution auf den wahrhaftigen Sozialismus gezielt habe und diese Absicht nur von der westdeutschen Machtelite – und paradoxerweise von den Wendehälsen in der SED-Führung – durchkreuzt worden sei. So vertrat Christoph Dieckmann kürzlich die Ansicht, die ostdeutsche Revolution sei mit der Maueröffnung vom 9. November tatsächlich an ihr Ende gelangt. Nicht wenige Oppositionelle von damals scheinen dies heute zu glauben.
Dass damals eigentlich gar keine Revolution stattgefunden habe oder diese sogar verhindert worden sei, liesse sich schon am Wort von der „Wende“ ablesen. Es gehört mittlerweile zum etablierten politischen Sprachschatz, auch in weiten Kreisen der ehemaligen Oppositionellen. Dabei wurde der Begriff nach dem 9. Oktober 1989 von Egon Krenz geprägt und sollte anzeigen, dass die neue SED-Führung von nun an auf das Niederknüppeln der Demonstranten verzichten wollte. Der „Wende“-Begriff symbolisiert nicht einmal eine „Revolution von oben“, sondern nur einen Kurswechsel der Machthaber, ihr oberflächliches Umpositionieren. Dies trifft zwar für so manche „Wendehälse“ zu, wird aber insgesamt den revolutionären Ereignissen der Jahre 1989 und 1990, die die tief greifende Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse bewirkten, nicht gerecht.
Auch an der Entstehung des Mythos vom „Anschluss“ wirken die einstigen Oppositionellen bis heute kräftig mit. Dieses Wort aus der Propagandakiste der SED-PDS fließt den Bürgerrechtlern inzwischen ohne Stocken über die Zunge. Doch schon wer in den Wortprotokollen des Berliner Zentralen Runden Tisches der DDR nachblättert, wird überrascht sein, wie sehr die Oppositionellen damals ebenso wie Wirtschaftsministerin Christa Luft (SED-PDS), den angeblich drohenden „Ausverkauf“ der DDR befürchteten. Zu den Kuriositäten dieser deutschen Revolution zählt ferner, dass die Oppositionellen am Runden Tisch aus Angst vor „Überfremdung“ tatsächlich darauf drängten, für die Volkskammerwahlen im März 1990 die Wahlkampfhilfe aus dem Westen zu verbieten. Das hat ohne Frage, wie Martin Gutzeit noch heute beklagt, der SED-PDS und den ehemaligen „Blockflöten“ in die Hände gespielt. Reichlich skurril erscheint es auch, wie sehr sich die Oppositionellen des Runden Tisches bis heute um das materielle und vor allem seelische Wohl der einstigen Machthaber sorgen. Schon am Runden Tisch diskutierte man tatsächlich darüber, wie die ehemaligen Stasi-Mitarbeiter am besten in die Gesellschaft zu integrieren wären: Ein sozialtherapeutisches Programm wollte man für sie auflegen! Noch heute meint Konrad Weiß, dass es um die Lage im Lande besser bestellt wäre, wenn dieses Programm tatsächlich in Kraft getreten wäre. Das Gegenteil dürfte wahr sein: Die bis heute hohe Akzeptanz der PDS (nicht nur) im Osten Deutschlands und die beträchtliche DDR-Nostalgie sind nicht zuletzt dem allzu versöhnlichen Umgang vieler Oppositioneller mit ihren früheren Peinigern geschuldet – der aber nach Jahrzehnten des die Psyche deformierenden Terrors einer totalen Diktatur nur allzu verständlich war.
Eine letzte unter den zahlreich kursierenden Legenden sei genannt: Der Runde Tisch, so erzählt es Wolfgang Ullmann, habe sozusagen als sein politisches Vermächtnis einen Verfassungsentwurf für die DDR erarbeitet. Der Fehler der neu gewählten De-Maizière-Regierung sei gewesen, als willfähriger Büttel Helmut Kohls den überstürzten Beitritt zur Bundesrepublik nach Grundgesetz Artikel 23 zu suchen. Stattdessen hätte man auf der Grundlage einer eigenen DDR-Verfassung selbstbewusst um eine gesamtdeutsche Verfassung ringen sollen. So hätte man einige der „Errungenschaften“ der DDR in die neue Bundesrepublik hinüberretten und zum Aufbau einer tragfähigen gesamtdeutschen Identität beitragen können. Die Wahrheit ist: Für eine eigene DDR-Verfassung gab es damals im Lande keine Mehrheit mehr – und deshalb auch nicht am Runden Tisch. All diese Legenden laufen letztlich auf das Kleinreden und Banalisieren der großen Taten hinaus, die die Bürgerrechts- und Demonstrationsbewegung in der Revolution von 1989/90 vollbrachte. Es macht manchmal den Eindruck, als wollten die Oppositionellen von einst sich noch nachträglich bei ihren Peinigern für die Revolution entschuldigen. Für ihren Sanftmut müssen die Bürgerrechtler denn auch bis heute Spott und gelegentlich gar Häme über sich ergehen lassen. Rolf Schneider hat die in die „Regierung der Nationalen Verantwortung“ eingetretenen Bürgerrechtler als „Minister mit Dienstwagen und ohne Portefeuille“ karikiert.
Gegen all diese Mythenbildung ist die historische Wahrheit festzuhalten: Die Oppositionellen, die sich seit dem 4. Oktober 1989 in der so genannten Kontaktgruppe versammelten, wollten – auch wenn durchaus einige Stasi-Spitzel unter ihnen waren – die Macht der SED und ihrer Diktatur brechen. Sie waren sich sehr wohl bewusst, dass die alten Mächte die Waffen noch nicht gestreckt hatten. Den Zentralen Runden Tisch machten sie zu ihrem Instrument, um die SED und die Stasi auf zentralstaatlicher Ebene niederzuringen. Bis zur „Erstürmung“ der Stasi-Zentrale in der Normannenstraße am 15. Januar 1990 konnte niemand in der DDR sicher sein, ob Modrow, der noch im Oktober 1989 Demonstranten in Leipzig verprügeln und verhaften ließ oder reaktionäre Kräfte aus dem Staatssicherheitsapparat nicht doch noch zur gewaltsamen „chinesischen Lösung“ greifen würden.
Um die Jahreswende 1989/90 war die Lage in der DDR aufs Äußerste gespannt. Am 8. Januar 1990 war am Runden Tisch ein Putschaufruf aus dem Geraer Bezirksamt der Stasi, datiert vom 9. Dezember 1989, bekannt geworden. Es ist nicht zuletzt der harten Verhandlungsstrategie von Mitgliedern des Neuen Forums am Runden Tisch – allen voran Ingrid Köppe und Rolf Henrich – zu verdanken, dass die Stasi-Festung ohne den Ausbruch von Gewalt geschleift werden konnte (die Behauptung, der Runde Tisch habe später die Vernichtung von HVA-Akten beschlossen, ist unwahr) und Modrow am 15. Januar auf einen Kompromisskurs einschwenkte. Der Auszug der Opposition vom Runden Tisch am 8. Januar und das damit verknüpfte Ultimatum an Modrow haben hierzu entscheidend beigetragen. Mit dem Sturm auf die Stasi-Zentrale hat die friedliche deutsche Revolution ihren dritten und entscheidenden Sieg nach dem 9. Oktober und dem 9. November 1989 davongetragen.
Es war nicht der Kompromiss mit Modrow – unter den damaligen Umständen durchaus verständlich –, der die SED und später die PDS aufgewertet hat, sondern die nachträglichen Banalisierungen und Mythenbildungen. Das unumstrittene Verdienst des Zentralen Runden Tisches, die SED-Diktatur ohne den Einsatz von Gewalt gebrochen und in der Folgezeit den friedlichen Übergang der DDR in die gesamtdeutsche Demokratie gesichert zu haben, bleibt davon unberührt. Um allerdings der ganzen historischen Wahrheit die Ehre zu geben: Noch vor dem Zentralen Runden Tisch in Berlin waren die eigentlichen Helden der Revolution die Menschen der DDR, die das Land zuvor in Scharen verlassen hatten, im Sommer 1989 die Botschaften in den Nachbarländern besetzten oder sich im eigenen Land zu Runden Tischen, Bürgerforen und den Demonstrationen der Kerzen zusammenfanden. Sie waren die wirklich treibende Kraft der Revolution und auch des Berliner Runden Tisches. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass die Vorstellungen von einem „Dritten Weg“, die es am Zentralen Runden Tisch in Berlin durchaus gab, nie verwirklicht wurden. Patrick Horst
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