: In den Provinzen der Düsternis
■ Die finstere Satire des Holländers Alex van Warmerdam
Es ist ein zäher Traum von Allermöhe II aus dem Spielzeug-Katalog: Noorderlingen, ein Schöner-Wohnen-Projekt im niederländischen Nirgendwo der 60er Jahre. Aus der Mischmaschine wächst ein Bäumchen: Baustop. Aber das staubige Hauptstraßen-Fragment ist bereits bevölkert von leibhaftigen Preiser-Figuren. Und es fehlt eigentlich an nichts: Da gibt es den Schlachter, eine Schule, den Postboten und die lieben Hausfrauen.
Doch was so schön sein könnte, ist falsch. Der Jäger sieht aus wie ein Buchhalter. Er hat ein begehrliches Weib, ist aber so infertil, daß er seine Potenz ganz auf seine stramme Büchse, das Mißtrauen und den Haß verlagern muß.
Der Schlachter hingegen hat ein wahrhaft passioniertes Verhältnis zum Fleisch. Er schneidet es routiniert, verschlingt es schnaufend. In das seiner üppigen Frau will er ständig hinein, doch die läßt ihn schon lange nicht mehr. Während er sich mit Ladengehilfinnen zu behelfen sucht – auch mit Gewalt –, flieht sie vor seinen Trieben in religiöse Verzückung. Unterdessen öffnet der Postbote im Wald die Briefe und verbrennt Mahnungen. Anarchisch ist er, vom Regisseur selbst gespielt, einer der wenigen Sympathieträger.
Alex van Warmerdam beobachtet und zeigt seine Figuren aus der Nähe, mit einem unangenehmen Deix'schen Sinn für Hilflosigkeit und Lächerliches. Sie reden wie Automaten und sagen nichts, ihre Beziehungen erscheinen nützlich oder beiläufig, nie beseelt. Van Warmerdam kommt vom Theater, seine Bühnenerfahrungen sind im Film offensichtlich. Es liegt etwas Stilisiertes, sowohl in den meisterhaften Bildkompositionen aus Farbe, Form und Licht, als auch in den Aktionen – eine beabsichtigte Künstlichkeit, die die Charaktere vom Innenleben befreit und sich am Korsett ihrer neurotischen Beziehungen ergötzt. Oft gleitet die groteske oder absurde Beobachtung ins Situationskomische ab.
Und häufig auch ins Düstere. Eine der schönsten Erfindungen von Noorderlingen ist der nahe Wald – natürlich eine rechtwinklige Monokultur dicht stehender Fichtensäulen – immer dämmrig und geheimnisvoll: die Projektion eines kollektiven Unterbewußtseins. Hier lebt die Fee, hier schreit das Käuzchen, hierhin treibt es die Männer zu adoleszenter Erotik, Vergewaltigung, Totschlag und Selbstmord.
Schlimm war die niederländische Provinz damals und ist es wohl noch. Der Regisseur, Jahrgang 1952, hat sie erlitten, mit wachen Sinnen und schlecht integriert. Glücklich verlief seine Jugend sicher nicht. Noorderlingen ist die Rekapitulation eines Betroffenen, ein versponnenes Sittengemälde der 60er Jahre. Doch van Warmerdam spinnt an allzuvielen Handlungssträngen und läßt dazu noch seinem cineastischen Gedächtnis die Zügel. Der Film wimmelt von Hommagen und Zitaten: Faßbinder oder Hitchcock, Bunuel oder Wagner – auf Schritt und Tritt belasten Reminiszenzen den Fluß. Unter der Überladung und der Lust am Fabulieren leidet vor allem die große Form. Die unterhaltsame Schilderung wird zusehends rhapsodisch. Der vage Schluß hält nicht, was der wunderbare Einstieg versprach.
Das ist die Rache am Voyeur: Das Eigenleben der Figuren sprengt die Erzählung.
Hilmar Schulz
Als Erstaufführung im 3001
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen