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In UdSSR melden Oppositionelle Erfolge

Bei den Wahlen in Lettland liegt die Volksfront vorne, sie hat aber die Zweidrittelmehrheit knapp verfehlt / Aus Estland liegen noch keine endgültigen Ergebnisse vor / Nachwahlen in Rußland, der Ukraine und Weißrußland bringen Erfolge für die Opposition  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Ab jetzt wird wohl auch in Lettland lautstark über die Unabhängigkeit der Republik von der Sowjetunion gesprochen werden. Denn bei den ersten Wahlen, bei denen in dieser Republik die Wähler unter mehreren Parteien auszuwählen hatten, haben die für die Unabhängigkeit eintretenden Kandidaten große Erfolge errungen. 126 von 201 Sitzen hat die Volksfront nach eigenen Angaben im ersten Wahlgang schon errungen, 63 Mandate fielen an die Kommunisten. Die Volksfront braucht eine Zweidrittelmehrheit (134 Sitze), um eine Entscheidung über die Unabhängigkeit wie in Litauen zu fällen. Gerade in den Wahlkreisen in Riga, wo nur 30 Prozent der Bevölkerung aus Letten besteht, werden die Nachwahlen heiß umkämpft sein. Von den parallel ablaufenden Wahlen in Estland liegen bis jetzt noch keine endgültigen Ergebnisse vor, jedoch wurden in der Nachbarrepublik Lettlands nach Angaben der estnischen Nachrichtenagentur 'etta‘ 45 der 105 Abgeordneten des Obersten Sowjet im ersten Wahlgang gewählt. Über die Kräfteverteilung konnten indes noch keine genauen Angaben gemacht werden.

Unterdessen zeichnete sich in der zweiten Runde der Nachwahlen in den Republiken Ukraine und Weißrußland am gleichen Tag eine geringe Wahlbeteiligung ab. Doch obwohl hier in einigen Wahlkreisen die Wahlen erneut wiederholt werden müssen, sind auch hier die Reformanhänger erfolgreich.

„Die Zukunft Rußlands beginnt morgen.“ So überschrieb die Moskauer lokale Tageszeitung 'Moskovskij Komsomoljez‘ am Samstag ihre Berichterstattung zur zweiten Runde der Wahlen in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Und tatsächlich: 220 der 300 Sitze für den Leningrader Stadtsowjet gingen an den Block „Demokratisches Rußland“. In Moskau dagegen schafften mit KP-Sekretär Juri Prokofjew und dem Präsidenten des Exekutivkomitees Waleri Saikin zwei hohe Funktionäre der Partei den Einzug in den Stadtsowjet. Doch bezeichnend ist, daß die dem „Block demokratischer Kandidaten Rußlands“ angehörenden Kandidaten die Mehrheit haben. Diese Formation, die im Westen gern als „linksradikal“ bezeichnet wird, die aber realistisch bewertet eher „klassisch-liberal“ und „gorbatschow-kritisch“ zu nennen ist, ist überall in Rußland auf dem Vormarsch, wenngleich auf dem Lande weniger schnell. Immerhin haben dort 35 Apparatschicks reinsten Wassers schon in der ersten Wahl die absolute Mehrheit bei den Wahlen für den Obersten Sowjet Rußlands gewonnen.

Erwartungsgemäß war die Wahlbeteiligung am gestrigen Sonntag eher welk. Vorausgesehen hatten dies schon etliche Deputierte, die sich am Wochenende zum Wahlthema in der Moskauer Presse äußerten. „Wenn es gelänge, den Moskauer und den Leningrader Stadtsowjet zu wahrhaft demokratischen Organen zu machen, würde sich das allgemeine Muster der Perestroika wesentlich ändern“, meinte der Historiker Jurij Afanasjew in einer Zeitungsumfrage. Die Registrierung von Zeitungen und Zeitschriften und anderen Masseninformationsmedien, die offizielle Zulassung von Bürgerbewegungen und politischen Parteien und schließlich die Entscheidung über Meetings und Demonstrationen, dies alles liegt beim Moskauer Stadtsowjet - erläutert Afanasjew die Bedeutung der hauptstädtischen Wahlen.

Daß die Opposition - wie Experten voraussagen - in Zukunft mit Zweidrittelmehrheit in Moskau herrschen wird, bedeutet einen Erdrutsch in der russischen Geschichte.

Die konservativen Potentiale der Ukraine sind, angesichts des blühenden landwirtschaftlichen Sektors, viel höher als in der RSFSR. Dennoch gewann das in der UdSSR als links geltende Oppositionsbündnis in Kiew 16 der 22 Sitze für den Obersten Sowjet der Republik. Die Volksfrontbewegung „Ruch“ rechnet mit mindestens einem Drittel der Sitze, wird aber wohl mehr erhalten. Einen Dämpfer erhielten die Oppositionellen allerdings, als sie erfuhren, daß Alexej Kwas, einer ihrer Führer, gegen den Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine, Wladimir Ischenko, verloren hatte. Sie machten für den Sieg des Parteichefs die Stimmen von 12000 Soldaten verantwortlich, die nach ihren Angaben am Wochenende bei Kiew ein Manöver abhielten und dort zu den Urnen gingen. Das ist nach sowjetischen Wahlrecht erlaubt. Noch unsicherer schien der Ausgang der Wahlen in Weißrußland, das als „Unglücksrepublik“ der gesamten UdSSR gilt. Hier liegen nach Auszählung von 120 Stimmbezirgen die Oppositionellen in 70 Bezirken vorn. Ohne Zweifel hat hier das Elend infolge des Unglücks von Tschernobyl ein Umdenken eingeleitet.

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