: In Leipzig spitzt sich die Lage von Tag zu Tag zu
Nach den Haftbefehlen gegen mindestens zehn LeipzigerInnen in der vergangenen Woche verschärft sich die Situation in der Pleißestadt von Tag zu Tag. Während die Opposition täglich Solidaritätsveranstaltungen für die Gefangenen organisiert, kündigten die Behörden im Vorfeld des für gestern abend geplanten Friedensgebets ein ähnlich scharfes Eingreifen wie in der Vorwoche an. Dies berichteten Leipziger Oppositionelle am Sonntag abend in Ost-Berlin. Seit einer Woche in Untersuchungshaft sind: Carola Bornschlegel (Sekretärin, 19), Katrin Hattenauer (Studentin, 20), Udo Hartmann (Hilfspfleger, 26) Axel Gebhart (Arbeiter, 29), Jutta Gätzel (Kellnerin, 38), Mirco Kätzel, Jörg Müller (beide 30, Rundfunk- und Fernsehmechaniker), Günter Müller (Techniker, 30) sowie zwei Frauen, deren Namen nicht bekannt sind. Drei der Inhaftierten haben einen Ausreiseantrag gestellt. Einige der Verhafteten sind Mitglieder von Menschenrechtsgruppen und zum Teil seit Jahren politisch aktiv. Alle eingeleiteten Ermittlungsverfahren beziehen sich auf den Paragraphen 217 des DDR-Strafgesetzbuches, der für die Teilnahme an einer „die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen“ eine Höchststrafe von zwei Jahren vorsieht. Wer gemäß Absatz2 dieses Paragraphen „eine Zusammenrottung organisiert oder anführt“, muß mit Gefängnis zwischen einem und acht Jahren rechnen.
Gestern war in Leipzig noch unklar, wieviele Personen die Behörden eingesperrt halten. Von den insgesamt 104 am vergangenen Montag Verhafteten und teilweise 24 Stunden später Freigelassenen wurden etliche in gerichtlichen Schnellverfahren ohne Zulassung eines Verteidigers zu Geldstrafen zwischen 1.000 und 5.000 Mark verurteilt. Die bisher registrierte Gesamtsumme der Strafen: 66.000 Mark.
Vermittlern von der Kirche wurden Auskünfte verweigert, beziehungsweise die Behörden haben sich möglicherweise Stillschweigen ausbedungen. Der Dresdner Bischof Johannes Hempel traf nach vorliegenden Informationen bereits zweimal mit dem stellvertretenden Vorsitzenden des Bezirksrates Leipzig, Hartmut Reimann (SED), zusammen, um den Konflikt zu entschärfen. Die Gesprächspartner wahrten Stillschweigen über den konkreten Inhalt ihres Meinungsaustausches. Nach Berichten von Insidern „schätzen beide Seiten die Lage in Leipzig als sehr ernst ein, ernster als im Januar diesen Jahres“. Damals kam es zu den ersten größeren Demonstrationen und Massenfestnahmen in der Stadt.
Die für ihre Zerstrittenheit berühmten Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen in der zweitgrößten Stadt der DDR, scheinen gegenwärtig auf ihren persönlichen Zwist weitgehend zu verzichten. In Absprache mit der Kirche richteten sie ein Koordinationsbüro ein und versuchen nun, die Solidarität zu organisieren. Vor der Nikolai-Kirche protestieren jeden Tag um 17 Uhr Menschen durch Gedenkminuten, mit Blumen und Kerzen. Seit vergangenen Donnerstag werden in Kirchenräumen Fürbittandachten durchgeführt. Es sei „kein großes Problem gewesen, verschiedene Räume bis einschließlich Freitag zu bekommen“, erklärte ein Mitglied der „Initiativgruppe Leben“.
Diese Aktivitäten erregen zunehmend den Zorn der Staatsorgane. Kirchenangehörige teilten mit: „Staatsvertreter haben uns sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß sie den sogenannten Mißbrauch von kirchlichen Räumen unterbinden wollen.“ Das kann nur bedeuten, daß in den nächsten Tagen mit neuen Zusammenstößen zwischen Polizei und AndachtsbesucherInnen sowie neuen Verhaftungen zu rechnen ist.
Unterdessen dehnen sich die Proteste auf die gesamte DDR aus. Aus Dresden, Halle, Karl-Marx-Stadt, Zwickau, Zittau, Groß Hennersdorf, Quedlinburg, Altenburg und Gera wurden Fürbittandachten bekannt. In der Ost-Berliner Zionskirche verfolgten am Sonntag abend etwa 120 Menschen sichtlich ergriffen die Berichte - eine Veranstaltung, die allerdings einem Beisetzungs-Gottesdienst glich. Pfarrer Simon rief zwar „Sie als einzelne hier auf, sich laut zu Wort zu melden“. Aber selbst das Singen des Liedes „Sonne der Gerechtigkeit“ klappte erst beim zweiten Versuch. Ein Leipziger meinte, es gebe durchaus „Möglichkeiten, mit phantasievollen Handlungen die Befreiung der Gefangenen durchzuführen“ - und bat unter Gelächter um Geldspenden.
Über Post soll sich in diesen Tagen ein DDR-Bürger besonders freuen: Bezirksstaatsanwalt Hartmut Lehmann, Beethovenstraße 2, Leipzig 7010
Knud Rasmussen.
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