: In Kabul wiederholt sich das alte Spiel
Hekmatyars Forderung nach Abzug der usbekischen „Teppichdiebe“-Milizen führt zu wachsender ethnischer Polarisierung/ Beide Seiten bereiten sich auf neue Kämpfe vor/ Flüchtlinge in Pakistan fragen: „Wer regiert in Kabul?“ ■ Aus Peshawar Bernard Imhasly
Ist der „Jihad“, der 13jährige Heilige Krieg, in Afghanistan zu Ende? Die Frage provoziert ein energisches „Nein“ bei der Gruppe von Männern, die im Flüchtlingslager von Katchha Garhi außerhalb Peschawars vor einer primitiven Backstube stehen und auf ihre Fladenbrote warten. „Wie kannst du das sagen — wer regiert denn in Kabul?“, fragt der Älteste, Shah Rasul. „Die Gilam Jam regieren, und sie sind grausamer als die Russen.“ Die Umstehenden nicken: „Die Gilam Jam haben während Jahren den afghanischen Jihad bekämpft. Nun sitzen sie in Kabul, plündern, vergewaltigen, töten.“
„Gilam Jam“ ist das neue Reizwort in Afghanistan, das „Kommunisten“ und „Russen“ ersetzt hat. Wörtlich bedeutet es „Teppichdiebe“. Es spielt auf die Milizen an, die der ehemalige Präsident Nadschibullah bei einigen ethnischen Minderheiten des Nordens — Usbeken und Ismailiten — rekrutiert hatte. Jahrelang nutzte Nadschibullah die ethnischen Vorurteile. Die „Jozjani“- und „Kehani“-Völker setzte er auf die Mudschaheddin- Verbände der größeren Volksstämme an. Bei den meisten AfghanInnen — Guerilleros eingeschlossen— waren „Jozjanis“ und „Kehanis“ verhaßt wegen ihrer Bereitschaft, für Beute in den Tod zu gehen, und wegen ihrer besonderen Rohheit Frauen und Kindern gegenüber.
Als der Usbeken-Führer Rashid Dostam mit dem UNO-Friedensplan das Ende des Nadschibullah-Regimes nahen sah, nahm er Kontakt mit seinem Feind Ahmed Shah Masud auf. Am 18.März — inzwischen auch mit dem Kabuler Armeegeneral Nabi Azemi in Verbindung — übernahmen sie die Stadt Mazar-e-Sharif. Einen Monat später, am 12.April, waren die Usbeken-Führer bereits vor den Toren Kabuls und eroberten den Luftwaffenstützpunkt Bagram. Als der gestürzte Nadschibullah tags darauf fliehen wollte, waren es Dostams „Jozjanis“, die dem Präsidenten auf dem Weg zum Flughafen den Weg versperrten.
Unheilige Allianz in Kabul
Nach der Eroberung sitzen jetzt Mudschaheddin zusammen mit den usbekischen „Teppichdieben“ in Kabul an der Regierung. Dieser unheiligen Allianz gelang zwar die rasche Machtübernahme in Kabul, aber sie bietet auch zunehmend politische Angriffsfläche für Gulbuddin Hekmatyar. Auch von diesem anderen Rebellenführer weiß man, daß er plante, in Kabul die Macht zu übernehmen. Seine Verbündeten wecken bei den Afghanen nicht so starke Aversionen wie die rohen Usbeken. Es sind vor allem die Vergewaltigungen, die strenggläubige afghanische Muslime empören.
Genau diese islamische Empörung vermag Hekmatyar zu nutzen. Auch für die Flüchtlinge im pakistanischen Peschawar ist der „Engineer“, wie er überall genannt wird, der einzige, der den „Jihad“ beenden kann. Hekmatyar, der einmal ein Studium als Straßenbauingenieur begonnen hat, soll nach dem Wunsch dieser Flüchtlinge Kabul zuerst von den „unislamischen“ Söldnern befreien und dann einen islamischen Staat verkünden.
Ein wichtiges Argument zugunsten von Hekmatyar ist die offensichtliche Schwäche des in Kabul installierten Regimes. „Wer regiert denn nun in Kabul?“, fragt der im südlichen Logar-Tal verschanzte Hezb-i-Islami-Führer Hekmatyar: „Ist es Rabbani oder Mudschaddidi oder der Usbekenführer Rashid Dostam?“ Die Frage spielt auf die Machtambitionen der ehemaligen Mudschaheddin-Führer an: Mudschaddidi, der nach Plan lediglich Vorsitzender eines Interimsrates für zwei Monate sein soll und dann von Rabbani abgelöst werden soll, läßt sich nun als „amtierender Präsident“ bezeichnen. Mudschaddidi hat bereits durchblicken lassen, daß er — „auf Drängen vieler Afghanen“ — auch bereit wäre, für zwei Jahre seine Funktionen auszuüben. Mudschaddidi hat zudem das von ihm eigenhändig zusammengestellte Interimskabinett mit Verwandten (darunter zwei Söhnen) und Anhängern seiner und anderer kleinerer Parteien besetzt.
Verwandte zu Ministern gemacht
Zehn der 36 Minister stammen aus seiner „Afghan National Liberation Front“. Die Flüchtlinge im pakistanischen Katccha Garhi lachen verächtlich, wenn sie auf die neue Regierung in Kabul angesprochen werden. „Sie haben dasselbe gemacht wie früher in Peschawar mit dem ,Afghan Interim Government‘. Sie haben ihre Anhänger zu Ministern erklärt und die wirklichen Kämpfer wie Hekmatyar ausgeschlossen“, sagt Rasul Shah. „Statt in Peschawar streiten sie nun in Kabul.“
Weder der Flüchtling Rasul Shah noch Hekmatyar erwähnen in ihrer Kritik den Mann, der gegenwärtig die größte Macht in Kabul hat: Ahmed Shah Masud ist Verteidigungsminister. Er ist das einzige Kabinettsmitglied mit einem genau definierten Ressort. Im Unterschied zu anderen Kommandanten, die sich gegen die „Teppichdiebe“ ausgesprochen haben, verteidigt Masud diese Milizen. Der Verteidigungsminister ist in den letzten Tagen auch politisch in die Offensive gegangen und scheint gewillt, den Kampf gegen Hekmatyar mit allen Mitteln weiterzuführen. Für den Posten des Stabschefs hat der neue Verteidungsminister den General Asif Dilawar nominiert. Das hat das Unbehagen bei vielen Mudschaheddin-Kommandanten noch verstärkt. Denn General Asif Dilawar ist nicht nur der frühere Kommandant der Kabul-Garnison, sondern war auch ein enger Mitarbeiter des ehemaligen afghanischen Präsidenten Babrak Karmal, der 1979 die Russen ins Land hereingelassen hatte.
In einem Interview verteidigte Verteidigungsminister Masud auch die Usbeken-Milizen und pries diese für deren Beitrag zur Befreiung Kabuls. Sie hätten wesentlich zum Sturz Nadschibullahs beigetragen. Dagegen warf er Hekmatyar vor, mit „kommunistischen Elementen“ der ehemaligen Regierungspartei und der Armee ein Komplott ausgeheckt zu haben. Damit wolle er sich zur alleinigen Macht in Kabul verhelfen. Die Usbeken hätten Hekmatyars Plan durchkreuzt.
In dem vom afghanischen Fernsehen ausgestrahlten Interview ließ Masud auch durchblicken, daß er bereit sei, Hekmatyar militärisch zu vernichten. Gleichzeitig bot er dem vor den Toren Kabuls verschanzten Hezb-i-Islami-Führer Hakmatyar den Posten des Ministerpräsidenten an. Der— politisch belanglose Posten — werde für seine Partei freigehalten. Es ist klar, daß der Verteidigungsminister Masud nicht damit rechnet, daß Hekmatyar das Angebot annehmen wird.
Pakistanische Zeitungen zitierten am Sonntag Diplomaten in Kabul, wonach sowohl der usbekische Milizenführer Dostam wie auch Masud am Samstag Verstärkungen aus dem Norden des Landes einfliegen ließen. Auch Hekmatyar scheint bereit, den Kampf wieder aufzunehmen. Er hat seine Bedingungen hochgeschraubt. Er fordert nun nicht nur die Abschiebung der usbekischen Milizen, sondern auch den Rücktritt von Interimspräsident Mudschaddidi. Offensichtlich hofft er auf einen zunächst politischen, später aber auch militärischen Solidarisierungseffekt bei vielen Mudschaheddin-Kommandanten gegenüber den verhaßten „Teppichdieben“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen