: Immer weniger ArbeitnehmerInnen lassen sich krankschreiben. Im vergangenen Jahr sanken die Fehlzeiten in deutschen Unternehmen von 4,6 auf 4,1 Prozent. Noch immer zuviel, meinen Arbeitgeber und drohen mit Kündigungen oder Einkommenseinbußen. Manche Firmen haben bereits alle kränklichen Mitarbeiter über 45 Jahre entlassen Von Annette Rogalla
Wer viel erkrankt, ist ganz schnell raus
So kommt Freude auf. Deutsche fehlen immer seltener am Arbeitsplatz. 1997 lag die Quote der krankheitsbedingten Fehlzeiten in Westdeutschland bei 4,17 Prozent, im Osten fiel sie auf 4,34 Prozent. Gezählt haben die gesetzlichen Krankenkassen nur die ärztlich attestierten Fehlzeiten ab dem dritten Tag. Noch nie seit 1945 ließen sich so wenige Arbeitnehmer krankschreiben. Der Kanzler jubiliert: „Durch das Land braust eine Gesundheitswelle.“ Werden wir immer gesünder?
Die Interpretation der Zahlen ist Glaubenssache. Als Hauptgrund für den Rückgang nennt das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesanstalt für Arbeit die Angst um den Arbeitsplatz. Klaus-Dieter Kossow, Vorsitzender des Berufsverbandes der Allgemeinärzte Deutschlands, stellt fest, daß die Zahl der sozialversicherungsfreien Beschäftigten zunimmt. Noch nie habe es so viele „Scheinselbständige“ gegeben, die offiziell ohne Arbeitgeber arbeiten. Und folglich bei Krankheit auch keinen „gelben Schein“ abgeben müssen. Aber auch bei seinen Patienten, die fest im Job verankert sind, beobachtet Kossow in seiner norddeutschen Praxis immer häufiger, daß sie „darum bitten, nicht krankgeschrieben zu werden, obwohl sie ins Bett gehörten“.
Schleppen wir uns vermehrt mit triefender Nase und letzter Kraft ins Büro? Die Statistik kann diese Frage nicht beantworten. Die niedrigen Zahlen können auch ein Indiz dafür sein, daß Ärzte nicht bei jedem Wehwehchen bereit sind, krankzuschreiben. Der sinkende Krankenstand zeigt aber, welchen Stellenwert das Glaubensbekenntnis zur Leistung hat: Überleben und wachsen wird nur, wer besser ist als die Konkurrenz, wer sich selbst immerfort zu Spitzenleistungen antreiben kann. Leistung ist das Synonym für Fortschritt, solange der einzelne oder das Team leistungsfähig bleiben, haben wir eine Zukunft.
Jung, kräftig, dynamisch – so sehen Belegschaften von morgen aus. Schon heute sei in den Betrieben ein „Prozeß der Selektion von Kranken“ im Gange, sagt Klaus Busch, Referent für Statistik im Bundesgesundheitsministerium. Er kennt Belegschaften, in denen ausnahmslos alle krankheitsanfälligen Mitarbeiter über 45 Jahre mit einer Abfindung oder über die Frühpensionierung hinauskomplimentiert wurden. Jüngere Mitarbeiter, auch das zeigt die Statistik, sind zwar häufiger krank als ältere, aber in der Regel selten länger als sieben Tage. Den Betriebskosten kommt es zugute.
Vom manager magazin befragt, gaben kürzlich Unternehmen die Kosten für den Krankenstand an. Die Deutsche Post AG ist mit 2.000 Millionen Mark im Jahr dabei, BMW beziffert den Verlust auf 144 Millionen Mark. Bei der Adam Opel AG macht ein Prozent weniger Krankschreibungen jährlich 23 Millionen Mark aus, rechnet Betriebsrat Klaus Franz vor.
Wer bei Opel krank wird, kann was erleben. Fehlt jemand am Arbeitsplatz, wird er automatisch zum Fall für den „Anwesenheitsverbesserungsprozeß“ (AVP). Das Programm läuft seit gut zwei Jahren. Mit einer Mixtur aus Motivation – etwa einfühlenden Gesprächen nach der Rückkehr – und Repression (wie der Androhung, das Weihnachtsgeld zu kürzen, falls der Krankenstand die Sechs- Prozent-Marke übersteigt) drückte das Unternehmen die Fehlzeiten von 7 auf 4,1 Prozent.
Der Arbeitsverbesserungsprozeß trifft jeden bei Opel, den Fließbandarbeiter genauso wie den Direktor. Diese Gleichheit habe „die Akzeptanz des AVP verbessert“, sagt Betriebsrat Franz. Gemeinsam mit der Geschäftsleitung wurde es entwickelt. Im Vordergrund, so Franz, stehe Motivation, nicht die Disziplinierung von Kollegen. Als Barometer für die freundliche Stimmung im Betrieb führt Franz die Kündigungen wegen Fehlzeiten an. Diese seien um die Hälfte zurückgegangen. Auch ein Rekord. Zudem ließen sich durch die Gespräche auch „Alkohol- und psyschische Probleme, die krank machen, besser erkennen“. Mehr Kollegen als früher suchten nun Rat beim betrieblichen Sozialdienst.
In der vergangenen Woche schlossen Betriebsrat und Geschäftsführung eine neue Betriebsvereinbarung ab. Die Kostenersparnis, die der tasächliche Krankenstand von 4,1 zu den erlaubten 6 Prozent bringt, teilen sich beide Parteien. Das Geld fließt in einen Fonds zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Im abgelaufenen Jahr kamen 23 Millionen Mark zusammen. Mit dem Geld werden gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze besser ausgestattet als der Arbeitsschutz vorschreibt. Neue Sitzhilfen für Büros, mehr Belüftungsschächte in der Lackiererei: So läßt sich durch den Zwang zur Leistung auch das individuelle Wohlbefinden am Arbeitsplatz steigern.
In der Zentrale der Industriegewerkschaft Metall in Frankfurt am Main werden die Propheten des neuen Durchhaltevermögens skeptisch beäugt. „In Rüsselsheim hängen die Krankenstände in jeder Abteilung offen aus“, moniert Eva Zinke vom gewerkschaftlichen Gesundheitsdienst. „Niemand traut sich, offen über sein Unwohlsein zu reden.“ Nach außen fördere AVP ein „Tarzanverhalten“. Nach dem Motto: Ich kann immer, wenn ich will.
Ein niedriger Krankenstand sei schlicht die Folge einer „funktionierenden Unternehmenskultur“, sagt Monika Lenk von der Berliner Recyclingfirma Alba. Moderne Arbeitsbedingungen hätten in ihrem Unternehmen die Krankenrate im gewerblichen Bereich auf drei Prozent gedrückt. Ein Gesundheitsprogramm gebe es für die 1.800 Mitarbeiter nicht. „Wer krank ist, ist krank. Wir leiden nicht unter Scheinkranken“, so Lenk. Allerdings kenne auch jeder im Betrieb die heimliche Botschaft: Tausende stehen draußen vor der Tür, bereit, bei Wind und Wetter den Müll aufzulesen.
Es ist wie im Wirtschaftswunder: Der unbedingte Leistungswille eint Industriebosse und Autobauer, Verwaltungschefs und Müllmänner. Trotz alledem. Im internationalen Vergleich nimmt Deutschland in der Krankenstatistik noch immer keinen Spitzenplatz ein. Die Briten kommen auf einen Krankenstand von 3,2 Prozent, die Italiener liegen bei 3,9.
Aber der internationale Vergleich hilft nur bedingt. Soziale Einflüsse und gesetzliche Schutzbestimmungen beeinflussen stark den Krankenstand. Eines ist allerdings klar: In Deutschland ist in vielen Fällen das miserable Betriebsklima für die gesundheitlichen Probleme der Mitarbeiter verantwortlich. Zu diesem Schluß kommt auch eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung, die jetzt veröffentlicht wurde. Gesundheitsforscher Bernhard Badura beobachtet einen „Kleinkrieg zwischen den Betriebsangehörigen“. Die sozialen Beziehungen seien schlechter geworden. Wettbewerbs- und Rationalisierungsdruck überforderten die Mitarbeiter. Autoritäres Führungsverhalten aber trage in „einem erheblichen Umfang zu den Fehltagen bei“.
Auch die neue Krankenstatistik belegt dies. Immerhin dauern rund 40 Prozent aller Krankschreibungen länger als sechs Wochen. Unspezifische Rückenbeschwerden führen die Hitliste der Diagnosen an. Krankheiten, deren Ursachen anerkanntermaßen im psychosozialen Bereich liegen. Auch das ist ein Spitzenwert.
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