: Im dunklen Grenzbezirk
Stereotype sind schrecklich, aber notwendig. Im Verhältnis der Völker zueinander wären wir ohne sie aufgeschmissen. Sie bilden den Anfang. Am Ende können Respekt, manchmal Zuneigung stehen, wenn man die Sache richtig anpackt.
Carsten packt an. Er hat mit Stereotypen zu tun, aber auch mit deren Fehlen, also teilnahmsloser Ignoranz. Er ist, der Vorname deutet es an, ein Nordlicht und blinkt seit drei Jahren aus seiner Wahlheimat Regensburg, der Schönen, unentwegt Richtung Südosten, nach Tschechien.
Auf deutscher Seite steht er dem „Tandem“ vor, dem Koordinierungszentrum deutsch-tschechischer Jugendaustausch. Sein Partner auf dem Radl sitzt in Pilsen. Das staatlich alimentierte Unternehmen berät, vermittelt „Begegnungspartner“, qualifiziert „Moderatoren“ und – last, but not least – vergibt Fördermittel für Träger im außerschulischen Bereich. Erstmals im letzten Jahr gab es mehr Förderanträge als Geld. Das Tandem läuft rund.
Carsten Lenk ist von Beruf Kulturethnologe, früher nannte man das Volkskundler. Wandernd und forschend hat er den ostbayrisch-böhmischen Grenzbereich erkundet. Auf der tschechischen Seite immer noch die Leere, die verlassenen oder verfallenden Dörfer der vertriebenen Sudetendeutschen.
Zwangsangesiedelte Roma, die sich erfolgreich dem Ackerbau verweigerten und die, zusammen mit den Vietnamesen, den mehr oder weniger legalen Grenzhandel in Schwung halten. Wirklichen Austausch, von der Feuerwehr bis zum Laientheater, gibt es von den ostbayrischen Städten aus nur mit Domazlice/Taus. Und das war früher eine überwiegend tschechische Stadt.
Auf der anderen Seite die Bayern, hauptsächlich an tschechischem Bier und den Billigmärkten jenseits der Grenze interessiert. Dazu die Sudetendeutschen, der neubayerische Stamm seit ihrer Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. Von ihnen sagt Lenk: „Sie sind doppelt verletzt worden, durch die Vertreibung und durch ihre Behandlung im Nachkriegsdeutschland.“ Oft galten sie als „Rucksackzigeuner“.
Sie lieben verzweifelt ihre ursprüngliche Heimat, finden aber keinen Weg zurück. Sie sind eingemauert in ihre Kränkung. Wie viele der alten Tschechen eingemauert sind in das Misstrauen vor dem übermächtigen Nachbarn im Westen.
Wie verhalten sich die Jungen zueinander, die mit Lenks Unterstützung aus beiden Ländern aufeinander treffen? Wie überall im Ost-West-Verhältnis waltet auch hier die Asymmetrie. Sprach-, Literatur- und Landeskenntnisse des Austauschpartners sind auf der tschechischen Seite massiert, mit der berühmten Ausnahme Prags, des Amsterdams der Neunzigerjahre, des Sehnsuchtsziels aller deutschen Austauschbegierigen.
„Das ist mein Joker“, sagt Carsten Lenk halb zufrieden, halb traurig. Und in den Vorlieben, der Musikkultur, den Klamotten, dem „westlichen“ Lebensstil sind sich die Jungen beider Länder ganz ähnlich – oft zur Überraschung der deutschen Besucher. Dennoch: Die jungen Deutschen sind eben wohlhabender und deshalb anspruchsvoller, selbstständiger, selbstsicherer. Und sie sind – je nach Betrachtungsweise – viel kritikfreudiger beziehungsweise viel unverschämter.
Wenn junge Leute beider Nationen zusammen sind, schaukelt sich das Wechselspiel von Selbst- und Fremdwahrnehmung hoch. Je kritischer beispielsweise die Deutschen, desto zurückhaltender die Tschechen. „Die Deutschen“, sagt Lenk, „sind dann viel deutscher, die Tschechen viel tschechischer.“
Vergleichende tschechisch-deutsche Jugendstudien gibt es kaum, aber Lenk verfügt über genügend eigene Erfahrungen. Die jungen Tschechen, resümiert er, sind viel familienbewusster, viel mehr aufs häusliche Glück aus als die Deutschen. Bei denen haben die ökonomischen Bedingungen bereits voll aufs Bewusstsein durchgeschlagen. Arbeitsplatz und Karriere stehen im Vordergrund.
Aber durchleben die deutschen Jugendlichen nicht, was den tschechischen bevorsteht? Und ist es nicht gerade die Verdüsterung der Zukunft, was künftig ihre gemeinsame Erfahrungsbasis, vielleicht auch die Basis gemeinsamen Handelns bilden könnte?
„Früher“, sagt Lenk, „war Versöhnung der Leitbegriff im internationalen Jugendaustauch. Wir brauchen ein neues Selbstverständnis. Vielleicht entsteht es aus unserer Anstrengung, Kompromisse auszuhandeln, unterschiedliche Interessen auszugleichen.“
Carsten Lenk will dabeibleiben. Nach drei Jahren harter Arbeit möchte er die Ernte einfahren. Hoffentlich hat er viel mehr als Stroh auf dem Wagen.
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