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„Im Zweifelsfalle für die Freiheit“

In Wuppertal begründete ein Amtsrichter seinen Freispruch mit einer notwendigen Änderung des Demonstrationsstrafrechtes  ■ Von Stefan Koldehoff

Wuppertal — Mit einem, vielleicht zwei Prozeßtagen hatten alle Beteiligten gerechnet. Daß schließlich sechs Verhandlungen daraus werden sollten, war nicht vorauszusehen. Schießlich sah alles nach einer Verurteilung wegen „Abhaltens eines öffentlichen Aufzugs unter freiem Himmel ohne vorherige Anmeldung“ aus. Dem 34jährigen Diplom- Sozialwissenschaftler Dieter Nelles legte das Wuppertaler Amtsgericht zur Last, eine nicht genehmigte Demonstration in der Wuppertaler Innenstadt organisiert und „geleitet“ zu haben.

Unerwartet aber kam es zum Freispruch: in seiner Urteilsbegründung verwies der Vorsitzende Richter Wirths auf Zeugenaussagen, die „Zweifel an der Leiterfunktion Nelles“ zuließen. Wirths ging dann aber auch allgemein auf das Demonstrationsrecht in der Bundesrepublik Deutschland ein und befand, daß hier nach Brokdorf und Wackersdorf schon längst eine Gesetzesänderung vonnöten gewesen wäre: „Es ist heute nicht mehr möglich, jede spontane Demonstration 48 Stunden vorher ordnungsgemäß anzumelden. Hätte ich den Angeklagten deshalb verurteilt, wäre das einer indirekten Verschärfung des Demonstrationsstrafrechtes gleichgekommen, denn jeder müßte Angst haben, als Leiter verurteilt zu werden, wenn er sich während einer Demonstration äußert. Im Zweifelsfalle für die Freiheit.“

Der „Fall Nelles“, wie ihn die Wuppertaler Lokalpresse apostrophierte, hat eine Vorgeschichte. Nachdem der Stadtverwaltung bekanntgeworden war, daß Nelles der Wuppertaler Autonomen-Szene angehört, die seit den siebziger Jahren immer wieder mit der Forderung nach einem „Autonomen Zentrum“ auf sich aufmerksam machte und dafür auch schon ein leerstehendes Fabrikgebäude besetzt hatte, entzog sie ihm kurzerhand die zugesagte Leitung eines Kurses an der Wuppertaler Volkshochschule. Für die Veranstaltungsreihe über die „Revolution in Wuppertal 1918 bis 1920“ traue man ihm „nicht die notwendige Objektivität“ zu, lautete die offizielle Begründung, die man Nelles mündlich mitteilte.

An seiner fachlichen Qualifizierung bestand und besteht unterdessen kein Zweifel: das von Nelles mitverfaßte Buch mit dem Titel Es lebt noch eine Flamme fand in den Medien und in der Öffentlichkeit großes Interesse und wird von Fachleuten heute zur Pflichtliteratur zum Thema Novemberrevolution gezählt.

Mit den Vorwürfen, für die der Sozialwissenschaftler Nelles jetzt vor Gericht stand, hatte diese Auseinandersetzung vordergründig nicht viel zu tun. Die Staatsanwaltschaft warf ihm vor, zwei nicht angemeldete und damit nach bundesdeutschem Recht automatisch nicht genehmigte Demonstrationen organisiert und geleitet zu haben.

Nach Beobachtungen eines Polizisten vom 14. Kommissariat der politischen Polizei sollte Nelles mehrfach über Megaphon zu der erneut für ein „Autonomes Zentrum“ demonstrierenden Menge gesprochen haben.

Während des Prozesses wurde aber deutlich, daß Nelles von der Polizei ganz gezielt observiert worden war. Der Wuppertaler Polizeipräsident selbst hatte einen seiner untergebenen Beamten während der Demonstration auf Nelles aufmerksam gemacht und dem Polizisten nahegelegt, ihn als potentiellen Versammlungsleiter im Auge zu behalten. Weitere Zeugen sagten dann auch aus, daß neben Nelles noch verschiedene andere Personen während der beiden Demonstrationen das Wort ergriffen hatten. Und der Angeklagte selbst wies darauf hin, daß es in der autonomen Szene gar keine Führungsstrukturen gebe: „Wir brauchen keine Leiter.“

In seiner bemerkenswerten Urteilsbegründung machte Richter Wirths seine Rechtsentscheidung dann auch vor allem an den Aussagen der Zeugen fest, die zugegeben hatten, an der Demonstration beteiligt gewesen zu sein. „Zweifel an der Leiterfunktion, die vorhanden sind, dürfen nicht zu Lasten des Angeklagten gehen.“

Die Staatsanwaltschaft kündigte Revision vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf an. Sie wolle prüfen lassen, ob nicht alle Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer, die zu Nelles Entlastung ausgesagt haben, wegen kollektiver Führerschaft zur Verantwortung gezogen und vor Gericht gestellt werden könnten.

Bei einer Pressekonferenz zum Thema „Autonomes Zentrum“ baten einige Vertreter der Autonomen prompt die anwesenden Journalisten, keine Namen zu nennen — man befürchte sonst, kollektiv angeklagt zu werden.

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