piwik no script img

Im Stich gelassen

Demonstrationen, schießende Soldaten, Verhaftungen - die Motive, die palästinensische Kinder in ihren Zeichnungen abbilden, spiegeln den Alltag in der von Israel seit 20 Jahren besetzten Westbank. Ausgestellt sind die Zeichnungen in einer Privatschule in Ostjerusalem. Daß der auf den Bildern dargestellte Ausnahmezustand tatsächlich ein permanenter ist, wird mir endgültig klar, als ich wenige Augenblicke nach Besichtigung der Bilder Zeuge eines Wiedersehens werde. Während uns die Direktorin der Privatschule auf den Hof hinausbegleitet, läuft sie plötzlich auf eine Studentin zu und schreit: „Shes out of prison!“ Das also ist hier Normalität: jemanden wiedertreffen, der monatelang im Knast war unter dem windigen Vorwand, eine illegale Organisation (die PLO) zu unterstützen. Die beiden fallen sich in die Arme und lachen und sind glücklich. Und scherzend wird die Freigelassene genau in Augenschein genommen: ob auch noch alles an ihr heile ist... Mir bleibt da jegliches Lachen im Halse stecken. Auf der Westbank gibt es z.Z. mehr als 10.000 Studenten in den vier arabischen Unis von Nazareth, Bir–Zeit, Bethlehem und Hebron. Es gibt aber fast genauso viele arbeitslose Akademiker: Die Infrastruktur ist nicht soweit ausgebildet, als daß jeder eine entsprechend qualifizierte Arbeit finden könnte. Zudem sind die Chancen, in Jordanien oder den Golfstaaten arbeiten zu können, in der letzten Zeit drastisch zurückgegangen. Das bedeutet zusätzliches Unruhepotential für die Besatzer, auch wenn dies unter den Palästinensern selbst noch nicht zu unmittelbaren sozialen Problemen zu führen scheint: Eine akademische Ausbildung ist nach wie vor sehr begehrt. Bisher (und auch jetzt noch) galt sie als eine Garantie für Zukunft. Die jahrelangen Auseinandersetzungen mit dem Militärregime haben auf der Westbank Politisierung und Widerstandskraft gefördert, die im benachbarten Jordanien in vergleichbarem Maße schwerlich anzutreffen sind. Trotz der Besetzung und trotz der in vielen Fällen völkerrechtswidrigen Aktionen des Militärs existiert ein gewisser Spielraum, den man, wie beispielsweise die Menschenrechtsorganisation „Al– Haq - Recht im Dienste der Menschen“, auszunutzen sucht. Der israelische Staat muß aufgrund seiner eigenen Demokratie–Spielregeln den Palästinensern Rechte zugestehen, die sie jenseits des Flusses nicht haben. Das mag man paradox finden oder pervers, aber es ist so. Es ist jedoch vor allem deswegen so, weil die Palästinenser sich diesen Bewegungsraum erkämpft haben. Was man in Jordanien entweder nicht weiß oder nicht wahrhaben will, ist in der Westbank eine Gewißheit: Links und rechts des Jordans haben unterschiedliche Entwicklungen stattgefunden, die man nicht mehr zurückschrauben kann. Und zumindest zwischen Nablus und Hebron nicht mehr zurückschrauben will. Viele Palästinenser der Westbank sprechen sich gegen den jordanischen Fünfjahresplan aus. Denn der impliziert politische Auflagen für die Projekte und Institutionen, die unannehmbar erscheinen. „20 Jahre hat man uns mehr oder minder im Stich gelassen“, sagt mir ein Uni–Dozent von Bir– Zeit am Schluß des Gesprächs. „Und jetzt will man diese 20 Jahre vergessen machen?“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen