: Im Sog von Klinsmann
Fabian Hambüchen erturnt sich nicht mit der gewohnten Souveränität den deutschen Mehrkampf- titel. Er muss sich bei der WM in Aarhus steigern, will er ins Konzept von Cheftrainer Hirsch passen
AUS STUTTGART JÜRGEN ROOS
Der Kontrast war Schwindel erregend. Während draußen die Fußballfans zum Länderspiel im Gottlieb-Daimler-Stadion strömten – glänzend gelaunt, feuchtfröhlicher Stimmung und lautstark singend – herrschte in der Stuttgarter Porsche-Arena Stille. 1.500 Menschen verloren sich auf den Rängen der neuen Halle, während unten an den Geräten die besten deutschen Turner ihren Mehrkampfmeister ermittelten.
Böse Zungen werteten die Szenerie als Aussage darüber, was den Unterschied zwischen Rand- und Massensportart ausmacht. Sie hatten nur zum Teil Recht: Wie der alte und neue Mehrkampfmeister Fabian Hambüchen am letzten Gerät den Ansturm von Philipp Boy abwehrte, war ebenso spannend wie der Auftritt von Schweini und Poldi nebenan gegen die Iren. Und die 1.500 waren schließlich doch begeistert und lautstark, nur gesungen wurde nicht.
Es wurde viel gesprochen über die Unterschiede, die es zwischen Fußball und Turnen gibt, dabei gibt es auch Gemeinsamkeiten. Der deutsche Männer-Cheftrainer Andreas Hirsch zeigte sich deutlich von Jürgen Klinsmann inspiriert, als er seine Ziele für die nächsten Wochen und Monate formulierte. „Ich war während der Fußball-WM auch in Deutschland und habe gesehen, was da abgelaufen ist“, sagte Hirsch, der nächste Woche einen Termin beim Heidelberger Psychologen Hans-Dieter Hermann hat, der die deutschen Turner länger betreut als die Fußballer. „Ich werde nachfragen, was da passiert ist in diesem Fußball-Team“, sagte Hirsch. Er sieht in der Turn-WM, die im September 2007 in Stuttgart stattfindet, „eine Riesenchance“. Hirsch: „Wir wollen wieder Fuß fassen und richtige Medaillen holen.“
Die erste Chance dafür bietet die WM im Oktober in Aarhus/Dänemark, für die Hirsch gestern fünf Turner nominierte. Neben Hambüchen und Boy, die im Turnteam die Rolle der jungen Wilden spielen, sollen Thomas Andergassen (Stuttgart), Robert Juckel (Cottbus), Eugen Spiridonov (Bous) und ein sechster noch unbenannter Turner dafür sorgen, das Hirschs neuer Optimismus auch in Ergebnisse umgesetzt wird. Das Mannschaftsfinale der besten acht Riegen soll es sein in Aarhus, vielleicht schon eine Medaille, nämlich von Hambüchen am Reck. Hirsch befindet sich wie Klinsmann in der angenehmen Situation, dass er seine Riege ziemlich radikal verjüngen kann. In Hambüchen und Boy machten ein 18- und ein 19-Jähriger den Mehrkampftitel unter sich aus, in Marcel Nguyen werden einem weiteren 18-Jährigen gute Chancen auf ein WM-Ticket eingeräumt. „Unsere jungen Leute machen den älteren Dampf“, sagte Hirsch, „das ist für Einzelne vielleicht unangenehm, aber für mich als Trainer eine tolle Sache“. Dass seine Sportart einen Aufschwung erleben wird, machte der Cheftrainer am Mehrkampf-Finale fest. „Es hat sich gezeigt, dass das Turnen tolle Wettkampfsituationen hervorrufen kann“, so Hirsch, „und dass selbst ein Hambüchen zu kippen ist, tut uns doch nur gut.“
Am Ende war Hambüchen doch nicht zu kippen gewesen. Weil der kleine Turnstar bereits am Pauschenpferd gepatzt hatte, musste er den Führenden vier Geräte lang hinterherturnen. Vor dem finalen Reck-Durchgang lag er noch neun Zehntelpunkte hinter Boy. Dann tat ihm der Cottbuser den Gefallen und machte bei der Katchev-Grätsche einen unfreiwilligen Abflug. Ex-Europameister Hambüchen behielt an seinem Spezialgerät die Nerven und flog als letzter Turner des Abends aufs oberste Treppchen. Boy verlor am Reck 3,5 Punkte und musste am Ende sogar Eugen Spiridonov auf den zweiten Platz vorbeiziehen lassen. Um diesen turnerischen Endspurt mit dem Fußball zu vergleichen: Die Situation war etwa so, als hätte Deutschland gegen Irland bis kurz vor dem Ende 0:1 zurückgelegen und in der Schlussphase noch zwei Tore gemacht.
„Ich hatte es in der Hand, wollte es besonders schön und für Fabian besonders schwer machen“, sagte Boy, „so habe ich es ihm besonders leicht gemacht“. Hambüchen sagte selbstsicher: „Ich hätte es ihm auch gegönnt, wenn er durchgeturnt hätte – dann hätte ich eben meine Übung noch ein bisschen aufstocken müssen.“
Während die Turner bei der WM das Mannschaftsfinale ins Auge fassen, kommt es für die deutschen Turnerinnen in Dänemark nur darauf an, im Team-Wettbewerb mindestens Platz 24 zu schaffen, damit sie sich für die WM 2007 im eigenen Land qualifizieren. Im WM-Jahr hofft die Teamchefin auf einen ähnlich jugendlichen Schwung wie ihr Kollege Hirsch. Von den dann startberechtigten Juniorinnen, die bei der EM im Mai Bronze gewannen. Ausnahmsweise muss keine Anleihe bei den Fußballern genommen werden, um diesen Vorgang zu beschreiben. Es reicht die Turnsprache: zweifacher Aufschwung.