piwik no script img

Im Rausch frei schweifender Gier

Dreißig Jahre Textarbeit – und dann? „Die flüchtige Seele“, Harold Brodkeys 1.343 Seiten dicker Roman, handelt vom Prüfstand der Möglichkeiten. Die Kritik hat er damit nicht bewegt  ■ Von Peter Michalzik

Die Gegend, in der sich der unermüdlich surrende Erzählmotor Harold Brodkeys ausbreitet, ist weitgehend begrenzt. Es ist vor allem die Adoptivfamilie des mit den „Nahezu klassischen Stories“ einem größeren Leserkreis bekannt gewordenen Wiley Silenowicz (hier des öfteren „Pupserchen“ genannt).

Natürlich werden die Ersatzeltern Lila und Samuel Leonhard, kurz S. L., zu Wileys wirklichen Eltern, der Knabe kommt schon im zweiten Lebensjahr in diese Familie, allerdings bleiben sie, ebenso natürlich, auch immer auf dem Prüfstand der Möglichkeitsform.

Ansässig ist die mittelständische Kleinfamilie in St. Louis, Missouri, erweitert wird sie durch Nonie. In ihr will der Erzähler partout sein Schicksal sehen, über sie schüttet er den ausschweifenden Haß des vivisektierenden Prosa-Analytikers aus. Was sie ihm leichtmacht, da sie als durchschnittliche Amerikanerin vor allem einige vergleichsweise ichsüchtige und konsumorientierte Wünsche an ihr ansonsten nicht sonderlich aufregendes Leben stellt. Ob sie wirklich am Tod ihrer Zwillingsschwester schuld ist, bleibt ungewiß; ob sie wirklich so abgrundtief eifersüchtig und neidisch auf Wiley war, ebenfalls; daß der Kampf zwischen beiden ein mit harten Bandagen geführter Vernichtungskrieg war, dagegen nicht. Auf jeden Fall gibt für Wiley diese Nonie das Weltmodell ab.

Neben dieser Familie nimmt die weitere Verwandtschaft einen auf einige sexuelle Kontakte begrenzten und das sich im ständigen Dialog mit sich selbst befindende Ich Wileys einen uferlosen Raum ein: Nach dem Tod von S. L. und Lila kümmert sich die Familie des Onkels um den attraktiven, intelligenten und vorlauten Adoleszenten.

Wir erleben im wesentlichen die ersten fünfzehn Jahre im Leben von Wiley Silenovicz, den wohl auch Brodkey für eine Verschriftlichung seiner selbst hält, oder besser die Ansichten, die sich ein älterer Mann von diesen 15 Jahren macht, oder noch besser, die Ansichten, die sich ein älterer Mann von seinen Gedanken und Gefühlen während dieser vergangenen Zeit macht. Außerdem kommt noch die aus den „Stories“ ebenfalls schon bekannte und enorm gutaussehende Ora Perkins vor, Wileys prägende Beziehung im jungen Mannesalter.

Harold Brodkey ist eine Berühmtheit, weil er sein Leben lang an diesem Buch geschrieben hat, dreißig Jahre lang, auch seine Erzählungen gehören in das Umfeld dieses Romans. Dieses Buch wurde präludiert, nicht unwesentlich, von jahrelangen Vorankündigungen, die alle wahnsinnig spannend fanden, dann betrat es die Welt als Block, im Format und Gewicht eines Ziegelsteins: 1.343 Textseiten, eine enorme Lesestrecke. Das erschlagende Werk interessierte niemanden so rasend wie die Vorankündigung. „Die flüchtige Seele“ liegt seit nunmehr fünf Monaten auf deutsch vor („The Runaway Soul“ gibt es seit 1991). Eine Debatte über einige Selbstverständlichkeiten unseres Schreibens und Redens, wie vom Autor immer wieder gefordert, hat es nicht ausgelöst. Liegt das daran, daß Brodkey seine Bedeutung schlicht überschätzt hat, oder liegt es an der nur noch in rudimentär vorhandenen literaturkritischen Wahrnehmung, die für solche Neuerungen keine Zeit hat? Oder an der Art des Buches selbst?

In den USA hat sich die Kritik in erster Linie geschmäcklerisch geäußert, in England wurde es daraufhin, vor allem von Salman Rushdie, verteidigt und euphorisch gelobt. Die Reporter interessiert überall die irgendwie aufregende Geschichte seiner Entstehung, der Medienhype und das Wunderkindgerede, und Brodkey selbst kann offensichtlich der Versuchung seiner Schlagfertigkeit nicht widerstehen, flotte und anmaßende Sprüche zu klopfen. So wird es wahrscheinlich noch einmal eine literarkritische Verbeugung bei seinem Tod geben und ansonsten schnelles Vergessen.

Lassen wir beiseite, daß uns Brodkey einiges über Amerika vermittelt, lassen wir beiseite, daß sein Buch trotzdem vor allem in der europäischen Erzähltradition steht, vergessen wir die Frage, ob das Buch brillant, unterhaltsam, große Literatur oder auch unlesbar ist, so bleibt vor allem eines: Es ist schwer zu übersehen, daß hier das Feld der Erzähllogik und somit auch des menschlichen Bewußtseins erweitert wurde – und zwar nicht unwesentlich. So war ja schon Brodkeys Erzählung „Unschuld“, die ihn hierzulande vor allem bekannt gemacht hat, auch nicht wegen der Abschilderung von Sex aufregend, sondern weil sie Sexualität als Bewußtseinsphänomen in einer Intensität deutlich gemacht hat, die es zuvor nicht gab.

Brodkeys Thema ist nicht, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird, er selbst, auch nicht Sex, sondern Beziehung. Brodkey läßt sich wie kein Autor vor ihm auf den Strudel der Intersubjektivität ein, auf die elementare Unauslotbarkeit, die unausrottbare Unsicherheit, in die man fällt, wenn man begreift, daß Ich, Du und die sogenannte Wirklichkeit irgendwo im Bereich des Zwischen ihren Ort haben. Das ist ein Strudel, der weit über die Wechselfälle tatsächlichen Zusammenlebens hinausführt. Daß Brodkey sich darauf einläßt, sich für nichts anderes interessiert, erklärt viel an seinem Buch: seinen Umfang, getrieben von dem Begehren, dort doch einen Boden zu finden, seine prinzipielle Endlosigkeit und Unabschließbarkeit, das Drehen und Wenden, In-Frage-Stellen und Neu-Überdenken, die Verschiebungen, Abwandlungen und Umdeutungen, die seinen Stil ausmachen, die enorme Intimität, die Brodkey wie kein anderer Autor herzustellen vermag, und die Sinnlichkeit, die in dieser gemeinsamen Intimsphäre entsteht. Der Zustand, in den man sich so mit (nicht bei) Brodkey hineinlesen kann, ist der kritiklose Rausch frei schweifender Gier. Daß Brodkey diese seine Welt als durch und durch sexuell bezeichnet hat – und zwar nicht im Sinne Freuds, wo alles libidinös gefärbt ist, sondern konkret – ist da zwingend. Das ist die zweite ganz eigene Qualität Brodkeys: die Naivität, mit der er die ganze Welt als Sexualbetrieb begreift.

Daß Brodkey dabei immer kokett, selbstgerecht, eingebildet, narzißtisch, vorlaut, sogar etwas altklug und spitzfindig ist, kann man unsympathisch finden, man kann es auch ehrlich finden, vergleichsweise egal ist es in jedem Fall. Wichtig ist, daß jeglicher sogenannte oder echte Realismus vor seinem Erzählverfahren verblaßt. Selbst die Vergangenheit, der sich Brodkey doch in extenso widmet, verschwimmt, muß verschwimmen. Und wenn man Brodkey lesend über diese Dinge nachdenkt, muß man zugestehen, daß die Vergangenheit wie die Zukunft nicht mehr als eine Projektion ist, ebenso unwirklich, ebenso ungewiß. Die subjektive Wahrheit des Vergangenen muß im Suchtmeer ihrer Wiederherstellung versinken. Je rekonstruktionsbegieriger und detailversessener man ins Imperfekt hineinruft, um so vieldeutiger,unbestimmter ruft es zurück.

So ist das Buch auch nicht, wie ebenfalls immer wieder gesagt wird, ein Buch des Erinnerns, zumindest dann, wenn man unter Erinnerung die Vergegenwärtigung einmal Gewesenen versteht. Es überläßt sich einem Kreisel, in dem die intimste Selbstbeichte zum welthaltigsten Realismus und die realistischste Erzählung zur rein subjektiven Mitteilung wird. Einen Gewinn kann man davon nur haben, wenn man sich dieser Drehbewegung überläßt ohne Angst, sich hinterher schwindelnd nicht mehr zurechtzufinden. Dann, und nur dann ist Brodkey ein Erweiterer erzählerischer Möglichkeiten. Die auktoriale Erzählperspektive, die in vielen Verkleidungen auftritt und nach der nicht nur der Literaturbetrieb mit seinem Ruf nach Realismus, sondern alle Medien immer wieder verlangen, wäre dann allerdings als dumme Lüge und als langweiligstes aller Erzählverfahren im Fiktionskosmos endgültig gebrandmarkt. Und das würde wahrscheinlich doch zu sehr schmerzen.

Harold Brodkey: „Die flüchtige Seele“. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1995, deutsch von Angela Praesent, 1.343 Seiten, 58 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen