Berliner Szenen: Im Lakritzladen
Leonie-Chantal!
„Leonie-Chantal, Mann! Du gehst Oma und Opa heute schon wieder so richtig auf den Senkel!“ In einem Lakritzladen steht ein ungefähr achtjähriges, leicht übergewichtiges Mädchen in rosa Leggings und rosa Daunenjacke. In der einen Hand hält sie eine leere Papiertüte, in der anderen eine Schaufel. Gerade hat sie gefragt, ob sie ein paar Süßigkeiten haben darf.
„Boah, Leonie-Chantal!“, war die Antwort ihrer Oma, die ihre Augen verdreht, mich mit einem Kinder-sind-so-nervig-Blick anguckt und zwei volle Süßigkeitentüten auf die Waage legt. Ich arbeite hier als Aushilfe, beobachte meine Kunden aus sicherer Distanz hinter dem Tresen und nicke und lächle nett, wenn es sein muss.
„Bitte! Bitte! Bitte! Bitte!“, macht Leonie-Chantal jetzt, setzt einen Hundeblick auf und hüpft auf und ab, als ob sie dringend auf die Toilette müsste. „Oh nee, ne?“, seufzt Oma. Leonie-Chantals Gesichtzüge verändern sich, die Mundwinkel gehen nach unten, die Augen werden schmaler. Als Oma ihr die Schaufel aus der Hand nimmt, ist es, als würde man einen Stöpsel ziehen: Leonie-Chantal fängt an zu heulen.
„Ach komm, lass sie halt!“, sagt der bisher still gebliebene Opa und verfällt in einen ungesund klingenden Hustenanfall.
Leonie-Chantal bekommt die Schaufel zurück und grinst zufrieden, Opa geht nach draußen eine rauchen. Oma läuft ihrem Süßigkeiten sammelnden Enkelkind hinterher, das vor jedem Glas stehen bleibt und überlegt, was es möchte. Leonie-Chantal entscheidet sich gegen die Lakritz-Bärchen und für die Mäuse. „Leonie-Chantal, jetzt reicht’s aber“, ruft Oma.
Opa klopft von draußen gegen die Fensterscheibe und zeigt auf eine imaginäre Uhr auf seinem Handgelenk.
„Leonie-Chantal! Oh Mann, ey!“
Leonie-Chantal sammelt weiter Süßigkeiten ein. Insa Kohler
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