Im Kino "The Cementary Club": Großmutters Diktatur

Der Dokumentarfilm "The Cemetery Club" erzählt von zwei Frauen, die den Holocaust überlebt haben. Mutig zeigt er, wie Gewalt ihre Opfer verhärtet, und macht doch nie Fehler in der Schuldfrage

Großmutters Diktatur
Der Dokumentarfilm "The Cemetery Club" erzählt von zwei Frauen, die den Holocaust überlebt haben. Mutig zeigt er, wie Gewalt ihre Opfer verhärtet, und macht doch nie Fehler in der Schuldfrage

VON BIRGIT GLOMBIZA

Es ist Samstagmorgen am Mount Herzl in Jerusalem. Und wie jede Woche pilgert auch an diesem Samstag ein seltsames Grüppchen 70-, 80-jähriger Männer und Frauen mit Klappstühlen und Kühltaschen über den Nationalfriedhof. Im Schatten einer großen Pinie, zwischen Gräbern und einer Gedenktafel für Theodor Herzl, den Verfechter des politischen Zionismus, lassen sich die Alten im Kreis nieder. Zur "Diskussion zeitgeschichtlicher, kultureller und politischer Fragen" und um "die Vereinsamung im Alter zu bekämpfen", wie es stolz in der Satzung des Debattierklubs heißt.

Bei Thunfischsalat und Orangensaft nehmen die Rentner der Mount Herzl Academy die Welt auseinander. Sie wagen sich an kühne Verknüpfungen zwischen Kant und Hitler und lassen auch Israels Politik in den besetzen Gebieten nicht unkommentiert. Eine Trillerpfeife sorgt bei allzu erhitzten Gemütern für Disziplin. Und nicht alle werden in diesem Thesengewitter mitbekommen haben, dass am nächsten Samstag Somerset Maugham zur Diskussion steht.

"The Cemetery Club" ist ein Dokumentarfilm und ein Glücksfall. Denn der Debattierklub der Überlebenden der Schoah markiert eine wunderbar eigenwillige Schnittstelle zwischen öffentlicher und privater Geschichtsschreibung. Von hier aus fahndet die Regisseurin Tali Shemesh nach der Historie der eigenen Familie, erzählt vom Holocaust, der Flucht, schließlich der Ankunft in Israel.

Im Zentrum steht ihre Großtante Lena, eine herrische, schwierige alte Dame und treibende wie gefürchtete Kraft der Mount Herzl Academy, sowie ihre Schwägerin Minya, die Großmutter der Regisseurin. Erst nach und nach sortieren sich die Lebenswege, fügt sich Lenas Strenge zu einem vagen Überlebensmuster, schreibt sich ihre traumatische Geschichte als Familienroman fort, der viel zu komplex ist, um einen klaren Anfang zu nehmen oder gar sich selbst zu erklären. Irgendwann erzählt sie von ihrem Vater, der im Ghetto verhungerte, von ihrer Schwester, die an Typhus starb und schließlich von ihrer Ankunft in Auschwitz. Wie alle dort "kahlgeschoren herumliefen und 'Brot' schrien". "Verrückte", dachte Lena damals. Dann muss die Kamera ausgestellt werden, weil sie plötzlich Magenkrämpfe bekommen hat vor Hunger. In der nächsten Einstellung sehen wir sie in der Küche beschämt zur Seite blickend und mechanisch einen Cracker nach dem anderen zum Mund zu führen.

In solchen Montagen erzeugt der Film eine unmittelbare Gegenwärtigkeit und scheue Intensität, in der Geschichte alles andere als Vergangenheit bedeutet. Tami Shemesh erweist sich als kluge, geduldige Regisseurin des Moments. Sie hat ein Auge und ein Ohr für die schöne Kleinigkeit, wie das beharrliche Klicken eines defekten Feuerzeugs, mit dem eine Academy-Teilnehmerin eine ganze Sitzung über versucht, ihre Zigarette anzuzünden. Und sie hat ein gutes Gespür für die Leerstellen, die ihr Mosaik braucht, um von den Erzählungen der Generation der Überlebenden zu den Wirklichkeitssplittern des Einzelnen zu schwingen. Schon in seiner Form, die immer wieder von der Mount Herzl Academy zu Lena und Minya springt, greift der Film dies auf, sodass man sich auf das Unzusammenhängende, Unvorhergesehene, Gleichzeitige und Zufällige einen eigenen Reim machen kann.

In "The Cemetery Club" geht es auch darum, die eigene Familie einmal durch fremde Augen zu sehen: die Geschichte von Lena und Minya, die zusammen in Lódz aufwuchsen, bis sie ins Ghetto umgesiedelt wurden. Minya und ihr Bruder, beide blond und blauäugig, konnte der Vater herausschmuggeln. Lena, die Ausschwitz und Bergen-Belsen überlebte, musste der eigenen Familie beim Sterben zusehen. Nach dem Krieg heiratete Lena Minyas Bruder. Ihre zwei Kinder gaben sie in Internate, damit Lena als Anwältin zusammen mit ihrem Mann arbeiten konnte. Zu ihrem Sohn Yoram ist der Kontakt abgerissen. Manchmal hat Lena diesen schrecklichen Traum, in dem sie mit ihm über eine Fernsprechanlage spricht. Er möchte zu ihr in die Wohnung kommen, doch sie lässt ihn nicht, weil er nicht ihre Sprache spreche. Das Drama vom verlorenen Sohn wird nicht auserzählt. Das von Lena, der tyrannischen Frau und Mutter, grundiert hingegen den ganzen Film.

Mutig ist "The Cemetery Club", nicht nur weil er die Spannung zwischen den Porträtierten aushält, sondern auch weil er sich auf die Ambivalenz der eigenen Bilder einlässt. Einmal sitzen Lena und Minya am Toten Meer. Der Wind zupft an den Bändern ihrer Basthüte. Und je länger man in diese Szene hineinlauscht, die so leicht, so getupft aus Sonne und Meer daherkommt, als stamme sie aus einem Film von Eric Rohmer, desto mehr erschrickt man vor der unverhofften Wucht, mit der die beiden sich gegenseitig ihre Hassliebe offenbaren.

Lena will gerade eine Geschichte von einem Polizisten im Ghetto erzählen, da unterbricht sie Minya mit einer eigenen Erinnerung an einen Wachtmeister aus jenen Tagen. Lena ist außer sich und weist die ungebildete Schwägerin mit kalter Schärfe zurecht: dass sich Minya als kleine Arbeiterin mit Kühen und Blumen sicher besser auskenne als mit Geschichte und Literatur. Doch Minya pariert diese autoritären Bildungsprotzereien mit respektlosem Gleichmut: "Was kann ich dafür, dass ich eine Ignorantin bin." Sprichts und baumelt mit den Beinen. Man möchte sie umarmen dafür.

"The Cemetery Club". Regie: Tali Shemesh. Israel 2006, 90 Minuten

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