piwik no script img

Identität ist (nur) Theater

Gastspiel auf Kampnagel: Jérôme Bels Choreografie The Last Performance erschüttert die theoriefeindliche Tanzwelt  ■ Von Gabriele Wittmann

Als Jérôme Bel vor einem Jahr mit dem Stück Jérôme Bel auf Kampnagel auftrat, schrien die Literaturwissenschaftler auf vor Begeis-terung: Endlich ein Choreograph, der zeitgenössische Diskurse aufnimmt. Endlich ein kluger Kopf, der das Tanztheater als Form nicht mehr nötig hat, um mit Körpern auf der Bühne gesellschaftliche Prozesse zu reflektieren und sie für den Zuschauer erlebbar zu machen.

Der 35-jährige, am Centre de la Danse Contemporaine in Angers ausgebildete Franzose hat sich seinen theoretischen Hintergrund einfach gegönnt. Eine Auftragsarbeit als choreografischer Assistent bei dem Eröffnungsspektakel für die Olympiade in Albertville brachte ihm so viel Geld ein, dass er es sich danach leisten konnte, „ein Jahr lang auf dem Sofa zu liegen und endlich zu lesen“, was er immer schon lesen wollte: Roland Barthes Abhandlungen über die Sprache und Michel Foucaults Geschichte der Sexualität. Er beschäftigte sich mit der Politik des Körpers, mit dem, was auch in dem nackten, scheinbar natürlichen Körper noch gesellschaftlich eingeschrieben ist – mit gender, Rolle, Identität.

Und gleich danach landete er einen weiteren Coup: The Last Performance, die jetzt ebenfalls nach Hamburg kommt. Noch bis Sonnabend werden sich die vier Tänzer ihrem Spiel rund um die Frage der Identität widmen. Und das sieht so aus: Ein Mann kommt in Jeans und T-Shirt vors Mikrofon und behauptet: „Ich bin Jérôme Bel“, der Choreograph. Dann schaut er stumm ins Publikum, zeigt Passfoto-Profil, damit die Zuschauer seine Aussage prüfen können. Doch wie geht das, wenn man nicht weiß, wie Jérôme Bel aussieht? – Diverse öffentliche Gestalten tauchen auf und spielen mit unserem Urteilsvermögen. Unter anderem kommt eine „Ich bin Susanne Linke“ auf die Bühne und tanzt einen Auszug aus Wandlungen, jenem Solo, mit dem die Tanztheater-Choreografin Susanne Linke Ende der 70er Jahre berühmt wurde.

Unter Bels Regie wird dieses Solo zum historischen Brennpunkt verschiedener Fragestellungen zum Tanz. Unter anderem zum Problem des Plagiats. Denn in allen Künsten gibt es das Problem der Fälschung, nur im Tanz bisher nicht. „Ich habe die kompetentesten Juristen Frankreichs mit dem Problem konfrontiert“, erzählt Bel, „und keiner konnte mir sagen, wie die Rechtsprechung über mein Plagiat urteilen würde – es gibt keine vergleichbaren Fälle.“ Und das verweist darauf, so schlussfolgert er, dass der Tanz als eigenständige Kunstform noch keine Geschichte besitzt.

The Last Performance markiert den vorläufigen Höhepunkt des Choreografen Jérôme Bel. Das Stück ist eine Abrechnung mit dem Theater – mit seinen Möglichkeiten, seinen Funktionsweisen, seinen Grenzen. Und mit den Grenzen unseres Denkens. Denn insgeheim führt uns Bel in unseren eigenen Kopf: In seinen Stücken wird man zum Detektiv. Es ist, als ob man mit einer Grubenlampe in die Tiefen der eigenen Gehirnwindungen absteigt – um genauestens zu verfolgen, wie ein Gedanke entsteht, wie er sich mit anderen verkettet, wie diese Kette zum Stiften von Sinn anregt und zum Bilden von Geschichte – und damit von Identität.

Nach so einem Stück muss ein Choreograf aufhören, weil alles getan ist, könnte man meinen. Jérôme Bel aber hat schon wieder mehrere Projekte in Planung, unter anderem mit dem Ensemble von Sasha Waltz, der frisch gekürten Co-Leiterin der Berliner Schaubühne.

Do, 21., bis Sa, 23. Oktober, 20 Uhr, k2

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen