: „Ick kapier det nich, daß der tot is“
Ein jugendlicher Autoknacker in Ostberlin wurde von seinem Kumpel erschlagen/ Über tausend geklaute Opel gehen auf das Konto der Jugendlichen im Alter von 15 bis 18/ „Im geilen Westschlitten ‘nen Affen schieben ist das Geilste“ ■ Aus Berlin Plutonia Plarre
Der Tod des 15jährigen Schülers Björn hat seine Kumpels in einer Autoknackerbande tief erschüttert. „Ick kapier det echt nich, daß der tot is“, wiederholt der 17jährige Lehrling Andreas fassungslos alle Viertelstunde unter dem kräftigen Nicken seiner beiden Freunde. Im Gedränge einer Eckkneipe in der öden Plattenhochhaussiedlung Friedrichsfelde in Ost-Berlin kippen sich die drei Jungs in schwarzen Lederjacken und pomadegestyltem Haar ein Bier nach dem anderen rein. Andreas ist seit Björns Tod nicht mehr arbeiten gegangen. „In der Nacht habe ich voll geheult. Ich würde alles dafür tun, daß er auf die Welt zurückkommt.“
Björn ist mittlerweile der dritte jugendliche Autoknacker, der innerhalb weniger Wochen zu Tode kam. Ende Februar rasten ein 15- und ein 16jähriger auf einer Landstraße bei Erkner mit über 100 Sachen in den Tod, weil das geknackte Lenkradschloß wieder eingerastet war. Der 15jährige Björn starb vergangene Dienstagnacht auf einem Parkplatz in Friedrichsfelde: Sein Kumpel, der 18jährige Mathias, hatte ihn mit einem Tritt gegen die Halsschlagader getötet. Der vernichtende Stoß kam, als Björn schon durch die vorangegangenen Schläge zu Boden gegangen war. Fünf Kumpels und eine Freundin sahen zu, aber niemand griff ein. Mathias sitzt jetzt wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge in Haft. Bei seiner Vernehmung erklärte er die Schlägerei damit, daß ihm Björn mehrfach gestohlene Autos vors Haus gestellt und er befürchtet habe, der Verdacht könne auf ihn fallen.
Der Lehrling Andreas stand wenige Meter daneben als Mathias zutrat. Warum er nicht eingegriffen hat? „Det waren doch beide Kumpels von mir, wenn die sich rumschlagen wollen, lasse ich die doch“, ringt er um Rechtfertigung, aber im gleichen Atemzug bricht es aus ihm heraus: „Mathias war total sauer auf Björn, weil er geglaubt hat, daß der seiner Freundin eine Schramme ans Auto gefahren hat. Aber das stimmte nicht.“ Björn habe sich in einem Auto vor Mathias zu verstecken versucht und noch gefleht: „Laß mich, ich weiß, daß ich unterlegen bin.“
Die insgesamt 20 bis 40 jugendlichen Autoknacker, die sich in verschiedenen Gangs organisiert haben, sind auf die Opelmarken GTI und GTL 16 V spezialisiert. Denn: „Einen Opel brauchste nur anzuhusten, dann springt er auf, außerdem zieht der ab wie Sau.“ „In 60 Sekunden das Lenkradschloß knacken — Fenster runter — Schiebedach auf — eigene Kassette rein — Musik laut und bei geilem Wetter mit einer heißen Schüssel unterm Arsch auf zur Spritztour.“ Auf das Konto der 15- bis 18jährigen, von denen kaum einer einen Führerschein hat, gehen inzwischen über tausend geklaute Autos, die im letzten halben Jahr mit leerem Tank und ohne Radio im Berliner Umland gefunden worden sind. Anfangs war es nichts weiter als Spaß: „Im schnellen Westschlitten vor den Kumpels einen Affen zu schieben ist das Geilste.“ Doch daraus wurde jetzt bitterer Ernst.
Den 15jährigen Thomas hatte die Todesnachricht am nächsten Morgen in der Schule eingeholt. Björn und Thomas waren im letzten Jahr eng befreundet. Im vergangenen Sommer knackten beide zusammen ihre ersten GSIs, nachdem die Älteren ihnen zuvor im geklauten Trabi auf einem Waldweg das Fahren beigebracht hatten. „Als ich zum ersten Mal im GSI die Digitalanzeige gesehen hab', sind mir fast die Augen rausgeflogen“, erzählt Thomas und seine traurigen Augen fangen an zu leuchten. Wie alle anderen trauten sich die beiden zunächst nur an die Opel heran, die weit weg von den Hochhäusern abgestellt waren. Und auch dann nur, wenn sechs Kumpels Schmiere standen. Aber schon bald schritt man mitten am Tag auf belebter Straße allein oder zu zweit zur Tat und amüsierte sich beim Davonbrausen köstlich, wenn ein bestürzter Besitzer angerannt kam. „An der Ampel haben die in den anderen Autos immer blöd gekiekt, weil ich nu mal nicht aussehe wie Führerschein“, lacht Thomas. Mit einer Sonnenbrille auf der Nase und hochgekurbeltem Sitz fühlten sich die Jungs mitten im Verkehr jedoch vollkommen sicher. „Nur als wir zum ersten Mal Bullen gesehen haben, haben wir uns fast vor Angst in die Hose geschissen. Später ist mir richtig warm ums Herz geworden, wenn ich einem Polizei- Lada begegnet bin. Gegen unsere schnellen Schüsseln hatten die doch keine Chance.“
Wenn der Sprit alle war, wurde in Ostberlin oder im Umland einfach das nächste Auto geklaut. Den Westteil der Stadt ließ man lieber links liegen, „weil es dort bullenmäßig zu unsicher ist“. Nur wenn ein begehrter Opel „gleich hinter der Mauer“ stand und man wieder auf sicheres Terrain flüchten konnte, wurde mal eine Ausnahme gemacht.
„Am Anfang war's nichts weiter als 'nen Affen machen“, erzählt Thomas, „später haben wir irgendwo in der Walachei die Reifen abgebaut, um Kohle zu machen.“ Im Gegensatz zu Björn und vielen anderen Freunden ist er inzwischen ausgestiegen, weil ihm die Sache zu heiß wurde. Denn seit ein paar Wochen schlägt die Kripo erbarmungslos zu. Mit den Zivis aus Westberlin, die in ihren Golfs im Gegensatz zu den Ladas der Volkspolizei voll aufdrehen können, ist nicht zu spaßen. „Mit 200 Sachen durch einen Tunnel rasen und auf der Autobahn von Lücke zu Lücke springen, das machen die doch glatt mit“, sagt Thomas mit unverhohlener Anerkennung. „Nebenbei gesagt, das muß ein geiler Job sein.“ Aber die Zivis sollten mal nicht glauben, die Jugendlichen würden sie nicht erkennen. „Wir haben den' schon alle Namen gegeben. Der mit dem Mantel und Hut ist Dr. Watson und der, der seine rechte Hand immer halb in der Jeansjacke hat, heißt Wumme.“
Seit ein paar Wochen schlägt die Kripo zu
Auch umgekehrt ist man inzwischen bestens bekannt. Gegen 20 Jugendliche sind zahlreiche Ermittlungsverfahren anhängig, die Liste der Vorwürfe ist lang: KFZ- und Autoradiodiebstahl in über 60 Fällen, diverse Geschäftseinbrüche, Körperverletzung und anderes. Drei ältere Kumpels sitzen in Haft, die übrigen konnten nach 48 Stunden Polizeigewahrsam wieder nach Hause gehen und sind so wie der 16jährige Lehrling Ulf nicht im mindesten beeindruckt: „Wenn man als Jugendlicher beim Diebstahl erwischt wird, wird die Anzeige doch gleich wieder fallen gelassen“, feixt er. „Im Polizeiarrest war's wie im Drei-Sterne-Hotel. Erst gab's belegte Brötchen und später sogar noch 'ne Cola und ‘nen Marsriegel.“
Die meisten Autoknacker wohnen noch daheim. Die Elternhäuser sind gutbürgerlich. Aber die Situation zu Hause ist kein Thema, wenn die Jugendlichen erzählen, warum sie die Finger nur so schwer vom Autoknacken
lassen können: Die 325 Mark Lehrgeld im Monat oder die 10 Mark Taschengeld, die ein 15jähriger in der Woche bekommt, reichen ihnen vorn und hinten nicht aus. „Aussehen, was darstellen“, vom Scheitel bis zur Sohle durchgestylt zu sein ist angesagt. Markenfabrikate wie New-Ballans-Turnschuhe von 250 Mark aufwärts und weiße Pech-Jeans ab 150 Mark sind ein Muß. „Nach der Wende waren die billigen Jeans total okay, aber inzwischen kommt einem der Stoff läppisch vor“.
Aber die Autoknackergang, die sich immer in der Eckkneipe trifft, schiebt noch aus anderen Gründen Frust. „Was soll man hier denn abends und am Wochenende machen, wenn es keinen anständigen Club oder eine gescheite Disco gibt?“ In den beliebten Jugendclub Linse wollen die Jungs nicht mehr, weil sie ihn fest in der Hand von „Linken und Anarchisten“ wähnen und es dort angeblich „irgendwie immer“ zu einer Schlägerei kommt. „Wir sind rechts, aber keine Nazis, wir haben nur was gegen nicht arbeitende Ausländer wie die Vietnamesen, die mit dem Verkauf unverzollter Zigaretten die Inflation hochtreiben“, schimpft ein 16jähriger. Am liebsten würde er Graffiti sprühen: „Wände gibt es hier ja genug, aber dann gehen die Alten auf die Barrikade.“ Finster findet er auch, daß es hier „nicht mal 'nen Streetworker gibt, an den wir uns wenden können, wenn wir Probleme haben“.
Aussehen, was darstellen, das wollte auch der 15jährige Björn. Jahrelang nahmen die Jugendlichen von Friedrichsfelde den ruhigen Sohn eines S-Bahn-Bauers nicht für voll. Für sie war er ein willkommener Sündenbock, auf den sie bei jeder Gelegenheit einschlugen. Erst als er in der Autoknackerei voll drin war und sich endlich die standesgemäßen Klamotten kaufen konnte, „um in zu sein“, stieg sein Image. Vor seinem Tod, so wird erzählt, hatte er sich gerade „mit einer neuen Lederjacke outfitmäßig auf Hooligan“ umgestellt. „Im letzten Vierteljahr hat er richtig angefangen zu leben“, weiß Thomas, „aber er wußte nicht so recht, wohin, seit er vor ein paar Wochen von zu Hause abgehauen ist und die Schule sausen gelassen hat, weil ihn alles total angekotzt hat. Manchmal schlief er sogar in seinen geklauten Autos.“ Thomas macht eine nachdenkliche Pause. „Eigentlich ist es schon traurig, daß man Autos knacken muß, um anerkannt zu werden“, fährt er fort. „Für mich ist es ein für allemal aus. Wer jetzt noch damit weitermacht, ist krank oder Kleptomane.“
Die Namen der Jugendlichen mit Ausnahme von Björn wurden geändert.
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