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„Ich habe Kinder doch gern“

■ Ein drogenabhängiges Paar steht vor Gericht, weil er in der Straßenbahn eine 3jährige mit Waffe bedrohte

Wilder Westen in Walle? Eine Familie, Mutter, Vater und zwei kleine Kinder, fahren in die Stadt „um einen schönen Tag zu haben“. Zu ihnen, in den letzten Wagen der Straßenbahnlinie Nummer 2, steigen zwei Männer und eine Frau. „Betrunken,“ werden die Eltern, Herr und Frau P. später vor Gericht über die Männer sagen. Und daß ihre mittlerweile fünfjährige Tochter noch heute von dem spricht, was dann geschah: “Plötzlich drehte sich der Herr W. um und hielt unserer Tochter die Pistole an die Stirn.“ Vorher schrie er „aussteigen, alle aussteigen“. Das ist der Alptraum mancher StraßenbahnfahrerIn. Aber im Juni 1993 schien er für die Waller Eltern wahr zu werden. Sie konnten ja nicht wissen, daß die Pistole nicht geladen war. Ihre kleine Tochter hatte noch Monate später Angstträume.

Auf Nötigung lautete die Anklage der Staatsanwaltschaft, die gestern in einem ersten Prozeßtag im Amtsgericht verhandelt wurde. Und auf schwere Körperverletzung. Denn außer daß Jürgen W. die Familie mit dem Revolver bedrohte, soll er den Familienvater auch noch mit CS-Gas angegriffen haben, draußen, nachdem die Familie an der nächsten Haltestelle schon aus der Bahn geflüchtet war. Das jedenfalls hatte der zuständige Beamte im Polizeibericht festgehalten. Zu Prozeßbeginn sah es nicht gut aus für Jürgen W. und seine Lebenspartnerin Carola H., zumal ihnen eine lange Liste von anderen Vergehen vorgeworfen wurde. Neben Ladendiebstahl und Schwarzfahren auch Nötigung in einem weiteren Fall: Das Paar soll beim Eintreiben von 50 Mark Schulden gegenüber einem Nachbarn gewaltätig geworden sein.

Von Wildwest-Manier oder Selbstgefälligkeit angesichts eines langen Sündenregisters war bei den Angeklagten gestern jedoch nichts zu spüren. Das Pärchen mühte sich fast eifrig, dem Gericht alle Fragen zu beantworten: Zwei Drogenkranke, die versuchen, füreinander einzustehen und durch möglichst unauffälliges Verhalten wettzumachen, was sie an Vorbehalten sonst trifft. Nicht ohne Ursache: Sie sind für Beschaffungsdelikte und Drogenmißbrauch schon bekannt. Auch für eine gewisse Irrationalität Er kenne das Milieu und die Leute, ließ ein als Zeuge geladener Polizist wissen. Und blieb bei seiner belastenden Feststellung, daß der Nachbar verletzt gewesen war – auch wenn der Kripobeamte zwei Stunden später keine Spuren mehr feststellen konnte.

Aber Jürgen W. und Carola H. ist nicht alles egal: „Ich hab' Angst vor mir selbst, wenn ich das in der Straßenbahn getan habe, was Sie von mir sagen. Ich mag kleine Kinder gerne“, beteuerte Jürgen W., der sich an nichts mehr erinnern kann. Er hat gut zwanzig Jahre Drogensucht auf dem Buckel, aber er sei kein Gewalttäter. „Nur wenn er trinkt, weiß Jürgen nicht was er tut“, schränkte die Frteundin ein. „Der verträgt doch nichts.“ Wenn sie dann Angst hat, dann nie um sich – sondern immer um ihn.

So auch an jenem Tag in der Straßenbahn, auf dem Weg zum Arzt, wo beide substituiert werden. Ein Bekannter und eine Weinbrandflasche kamen ihnen quer und warfen Jürgen aus der Bahn. Carola H. wußte nicht mehr, was sie machen sollte, erzählt sie dem Gericht aufgewühlt und schon wieder hilflos – denn der Richter fragt so gründlich, wie sie es im Alltag nicht gewohnt ist.

Deutlich wurde gestern jedenfalls: Sie bemüht sich, keine Fehler zu machen. „Sie versuchte, zu beschwichtigen“, bestätigt der Familienvater. Aber die Entschuldigungen von Jürgen W. konnte die Familie gestern nicht annehmen: „Wie soll ich das meiner Tocher erklären? fragte die Mutter. Daß der schwerwiegende Verdacht der Körperverletzung gegenüber Jürgen W. fallengelassen wird, dafür sorgte das Ehepaar in aller Offenheit im Prozeß: „Ich war es, der die Tränengas-Keule rausgeholt hat“, erklärte der Vater. Um meine Familie zu verteidigen. Am Freitag wird das Verfahren fortgesetzt.

ede

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