: Hysterie und Haß
In Israel kreisen nach den jüngsten Gewalttaten viele Debatten um den schnelleren Schußwaffengebrauch ■ Aus Jerusalem Frank Ludwig
Der Weg ist kaum zu verfehlen. Ein Dutzend Polizeifahrzeuge rast am Montag vormittag die Straße nach Ramallah entlang. Jenes, dem wir zu folgen vermögen, biegt nach halber Strecke nach rechts ab. Nach Pisgat Ze'ew, einem jüdischen Wohnviertel an der nördlichen Peripherie des palästinensischen Ostens von Jerusalem. Am Rande eines Wadis endet die Fahrt. Eine stattliche Anzahl von Polizisten, Grenzschutzsoldaten und jener junger Männer, denen man auf der ganzen Welt wohl sofort ansieht, wie geheim sie eigentlich sind, haben sich schon eingefunden. Natürlich auch Zaungäste.
Alles schaut angestrengt ins Tal hinab. Dort muß er irgendwo sein, der Palästinenser. Mit einem Messer habe er sich an eine Gruppe spielender Kinder herangeschlichen und eines davon lebensgefährlich verletzt, weiß eine Frau aufgeregt zu berichten. Drüben in Neweh Ja'akow, einer anderen Siedlung, die sich jenseits des Wadis den Hang hinaufzieht. Dann sei er geflüchtet. Ein Passant habe zwar sofort auf ihn geschossen, anscheinend aber nicht getroffen.
Sofort schießen, auf diesen Punkt kann man die hitzigen Debatten bringen, die sich in der israelischen Öffentlichkeit nach dem Verbrechen vom frühen Sonntag morgen in Baka, einem Stadtviertel im Jerusalemer Westen, entzündeteten. Dort hatte ein 19jähriger palästinensischer Maurer mit einem Bajonett zunächst ein Mädchen in Armeeuniform massakriert, dann einen Mann aus der Nachbarschaft erdolcht, der ihm den Fluchtweg versperrte und schließlich auch noch einem Polizeioffizier tödliche Verletzungen beigebracht. Hätte dieser nicht nur auf die Beine des Wahnsinnigen gezieht, wäre er noch am Leben, meinte Polizeiminister Milo. Mit diesem versteckten Vorwurf gegen den toten Beamten will Milo aber nicht zuletzt Angriffe auf seine Person abwehren. Angriffe von Geula Kohen beispielsweise, die für die rechtsextreme Tehiya-Partei im Parlament sitzt: Schuld an allem, so die Extremistin, sei die samtpfötige Sicherheitspolitik. „Unseren Jungs wird ja regelrecht Angst davor gemacht, ihre Waffen einzusetzen. Das muß sich ändern“, ruft sie noch am Tatort der Menge zu, von denen einige gerade mit Steinen die Fenster eines Hauses eingeworfen haben, weil sie dort die Wohnung eines „Linken“ vermuten.
„Wir werden unsere Bestimmungen zum Gebrauch der Schußwaffen überprüfen“, räumt der Minister ein. Das hatte er übrigens vor zwei Wochen schon einmal gesagt. Als seine Leute nach dem Blutbad vom Tempelberg in den Verdacht gerieten, zu hemmungslos zu den Waffen zu greifen. Davon kann nun freilich keine Rede mehr sein. Auch davon nicht, daß hierzulande den Polizisten die Pistolen längst bedrohlich locker im Halfter sitzen. Wie jenem Beamten, der vor drei Wochen mitten in der Nacht auf einer Zufahrtsstraße nach Jerusalem aus seinem Auto sprang und auf ein ihm entgegenkommendes Fahrzeug schoß, weil er meinte, dessen Fahrer hätte die Absicht, ihn zu rammen. Auch das ist längst vergessen, obwohl das eine der beiden israelischen Mädchen, die dabei verletzt wurden, noch immer im Krankenhaus liegt. Stimmen, die davor warnen, aus Israel einen zweiten Wilden Westen zu machen, finden kaum Gehör.
Über dem Wadi zwischen Pisgat Ze'ew und Neweh Ja'akow kreist unterdessen auch ein Polizeihubschrauber. Doch trotz des Großaufgebotes konnten die Sicherheitskräfte bislang des Attentäters nicht habhaft werden. Wir versuchen, mit dem Auto ins Tal zu gelangen. Die Straße führt im großen Bogen auf ein Dorf zu. Soldaten kontrollieren den Zugang. Heraus darf dort sowieso keiner. Nach dem Mord in Baka ist Bewohnern der besetzten Gebiete das Betreten Jersalems bis auf weiteres verboten. Ein Palästinenser wird aus dem Auto eines Israelis geholt. Der Fahrer, unverkennbar ein orthodoxer Jude, hatte versucht, ihn herauszuschmuggeln. Er wird ihn wohl dringend zum Arbeiten gebraucht haben. Wir dürfen passieren. Die Menschen im Dorf ahnen, was auf sie zukommen wird. Acht Tage lang hatte die Armee vor zehn Wochen alle Zufahrtswege nach Beit Hanina mit Schotterbergen versperrt, als in einem Olivenhain am Rande des Dorfes die Leichen von zwei israelischen Jugendlichen gefunden worden waren. Für die Polizei war es von Anfang an keine Frage, daß die Täter von dort gekommen sein müssen. Doch noch heute fehlt von ihnen jede Spur.
Hinter dem Dorf verliert sich die Straße auf einmal in den kargen und steinigen Feldern. Wir geben auf und kehren um. Auch die Polizei, der Grenzschutz und die „Geheimen“ gegen auf. Die Nachrichten im Radio vermelden, was sich zugetragen hat. Im Supermarkt von Neweh Ja'akow kam es zu Handgreiflichkeiten zwischen einem palästinensischen Lagerarbeiter und einem israelischen Fleischliferanten. Man habe sich gegenseitig der Betrügerei bezichtigt, heißt es weiter. Da habe der Palästinenser plötzlich zum Messer gegriffen und den Israeli leicht verletzt. Ein banaler Fall. In den israelischen Zeitungen ist später freilich die Schlagzeile zu lesen: „Erneut ein Jude von arabischen Nationalisten niedergestochen!“
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