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Hunger nach Menschenfleisch

Rußlands neue Verfassung garantiert das Recht auf Verweigerung. Aber Politiker und Militärs tun sich nach wie vor schwer damit  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die Mutter, die in der Moskauer Metro schützend den Arm vor ihren kleinen Jungen hält, damit er von den nachdrängenden Menschenmassen nicht erdrückt wird, hat ihn schon längst an die Mächte der Gewalt verraten müssen. Schon bei der Geburt wird in Rußland jedes männliche Kind auf dem nächstgelegenen Kriegskommissariat registriert: zwecks späterer Rekrutierung.

Wollen die Erziehungsberechtigten in einen anderen Bezirk oder in eine andere Stadt umziehen, müssen sie sich zuerst eine Bescheinigung besorgen, aus der hervorgeht, daß das Knäblein bei den Militärs entsprechend umgemeldet wurde. Erst dann darf es offiziell die Wohnung wechseln – und mit ihm dürfen seine erwachsenen Eltern.

Ist der Junge herangewachsen, kann er sicher sein, daß ihn die Vertreter des Kriegskommissariats zwecks Einberufung noch unter dem Bett und in der Besenkammer suchen werden. Kein Wunder, werden doch täglich neue Bonzen zu Generalen befördert, die Fußvolk zum Kommandieren brauchen.

Was das Heute betrifft, so schürt der bewaffnete Konflikt in Tschetschenien den Hunger der Militärs nach Menschenfleisch. Angesichts der Allgegenwart der Armee im Leben der russischen Gesellschaft erscheint vielen BürgerInnen ein ziviler Alternativdienst als blanke Utopie. Den meisten ist nicht einmal bewußt, daß schon seit über zwei Jahren ein solcher Dienst zu den Grundrechten zählt. Die junge russische Verfassung von Ende 1993 garantiert das „Recht, den Wehrdienst aufgrund der eigenen Überzeugung zu verweigern“. Ein dieser Verfassung entsprechendes Gesetz oder gar Ausführungsbestimmungen sind allerdings bis heute nicht in Kraft.

Aktiv gefordert werden sie von einigen Dutzend junger Männer, die schon jetzt den geraden Weg der Verweigerung aus Gewissensgründen wählen, anstatt sich mit Magengeschwüren oder Bettnässen herauszureden. Wer auch immer von ihnen seinen Widerstand gegen die Einberufung innerhalb der Frist von zehn Tagen vor Gericht artikulierte, hat bis jetzt auch gewonnen. Unterstützt werden sie von der winzigen „Transnationalen Radikalen Partei, verwandt und verschwägert mit der italienischen „Partito Radicale“ und der großen Bewegung der „Soldatenmütter Rußlands“.

Regierung und Duma sind außerdem in Zugzwang geraten, seit Ende Januar die parlamentarische Versammlung in Straßburg empfahl, die Russische Föderation in den Europarat aufzunehmen. Einen Alternativdienst wirklich auf die Beine zu stellen, dies gehört zu den Bedingungen, zu deren Erfüllung Rußland sich verpflichten muß, bevor es zur feierlichen Aufnahmezeremonie kommt. Immerhin eine von drei vorgeschriebenen Lesungen passierte in der vorigen Duma ein Gesetzesentwurf über den „zivilen Ersatzdienst“.

Mit diesem gutgemeinten Projekt verärgerten die Deputierten unter anderem die Militärs, denen es noch nicht genug war, daß der Zivildienst anderthalbmal länger dauern sollte als der beim Militär. Sie sähen es am liebsten, wenn die Alternativdienstleistenden zur Strafe für ihre Aufmüpfigkeit zwei oder dreimal länger „brummen“ als ihre Altersgenossen beim Militär. Außerdem störte sie das Wörtchen „zivil“ in der Bezeichnung des vom Parlament projektierten Dienstes. Wenn es nach ihnen ginge, würden die waffenlosen Gewissenstäter in die berüchtigten Bau- und Eisenbahnbataillone der Armee verbannt. In denen liegt schon heute – auch dort, wo Rußland noch friedlich ist – die Todesrate unter den Rekruten durch Mangelernährung, Unfälle und brutalen Kasernenterror besonders hoch. „Militärdienst oder Wehrdienst“, die russische Sprache kennt in ihrer schönen Offenheit keine solchen Differenzierungen. Hierzulande heißt das noch immer „Kriegsdienst“. Als kürzlich der Stab des Präsidenten – offenbar gedrängt durch die Straßburger Forderungen – seinerseits den Entwurf zu einem Jelzin-Ukas ausarbeitete, kam dieser den Vorstellungen der Militärs näher als das alte Parlament – ebenso den sprachlichen Traditionen. Der – inzwischen korrigierte – Name der ersten Fassung lautete wörtlich übersetzt „Erlaß zum alternativen Kriegsdienst“.

Angesichts solcher präsidialer Aktivität und der nationalistisch- kommunistischen Mehrheit nach den Parlamentswahlen vom letzten Dezember, trauern die russischen ZivildienstbefürworterInnen dem alten Duma-Entwurf schon nach.

In den letzten Wochen haben sie dafür ein direkteres und flexibleres Instrument zur Durchsetzung ihrer Interessen entdeckt: Gegen einen Duma-Beschluß können in Rußland Präsident und Föderationsrat Einspruch einlegen, gegen einen Volksentscheid nicht. Die Soldatenmütter, die Gewissensverweigerer und die Radikale Partei haben ausgerechnet, daß 700 Leute in den drei warmen Sommermonaten jeweils vier Stunden pro Tag opfern müßten, um die für die Durchführung eines Referendums in Rußland notwendigen zwei Millionen Unterschriften zu sammeln.

Noch haben sie sich nicht zu diesem Schritt entschieden. Mut macht ihnen der gewaltige Erfolg des Nischnij-Novgoroder Gouverneurs, Boris Nemzow, mit seiner Unterschriftensammlung gegen den Tschetschenien-Krieg.

„Ich habe einen Traum“, sagt eine „Soldatenmutter Rußlands“: „Den Traum von einer Gesellschaft, in der uns nicht mehr die Militärs diktieren, wie wir zu leben haben, sondern in der wir uns die Militärs anheuern, die wir brauchen.“

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