: Hundert Jahre hinter Gittern
■ Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik und das Dritte Reich bis zur Bundesrepublik: Das Gefängnis Tegel hat stets als Knast gedient
Das 1898 gebaute „Strafgefängnis Tegel“ war ursprünglich als Haftanstalt für Berliner Kleinkriminelle mit kurzen Strafen konzipiert: „Für Obdachlose, Arbeitsscheue, Landstreicher und ähnliches“, wie es in der von der Justizvollzugsanstalt Tegel zum 100jährigen Bestehen herausgebenen Anthologie heißt.
„Hier saßen nicht die großen Urheber spektakulären Kriminaltaten.“ Der erste Transport, der die Anstalt am 2. Oktober 1898 erreichte, bestand aus 90 Gefangenen. Zum Jahresende waren es bereits 900. Von Montag bis Sonnabend wurde zehn Stunden am Tag geschuftet. Gespräche während der Arbeit und der Freistunde waren strikt untersagt. Der Arbeitslohn betrug maximal 30 Pfennig pro Tag. Die Gefangenen mußten eine blaugrau-melierte Anstaltskleidung tragen. Auf dem Speisezettel standen Suppe und Getreidegrütze, aber es gab auch Bohnen, Kohl und Rüben oder „Reis mit Kartoffeln“.
Prominenter Insasse war seinerzeit Wilhelm Voigt. Der stellenlose Schuhmacher, der in geliehener Hauptmannsuniform den Bürgermeister von Köpenick festgenommen und die Stadtkasse beschlagnahmt hatte, war 1908 nach zwei Jahren Haft begnadigt worden. Während des Ersten Weltkriegs wurden zwei Zellenhäuser der Anstalt zeitweise zu einer Militär- Strafanstalt beziehungsweise einer Militär-Arrestanstalt umfunktioniert.
Die revolutionären Ereignisse 1918/19 sind auch an Tegel nicht spurlos vorübergegangen. Nach dem Spartakusaufstand wurden 170 bis 180 Spartakisten eingeliefert, die von einer Marinebrigade bewacht wurden. Bei den politischen Unruhen wurden so viele Menschen festgenommen, daß Tegel aus den Nähten zu platzen drohte. Es kam zu Meutereien und Hungerstreiks.
Die Überbelegung wurde erst Mitte der zwanziger Jahre beseitigt. Mit dazu beigetragen haben neue gesetzliche Regelungen zur Einschränkung von Freiheitsstrafen und die Einführung von Geldstrafen. Der Vergeltungsstrafvollzug wurde in der Weimarer Zeit zwar nicht gänzlich verdrängt, aber vom Erziehungsgedanken überlagert. Den Reformen war in der Zeit der Weltwirtschaftskrise aber kaum Erfolg beschieden, zumal sich die Justizbediensteten weitgehend verständnislos zeigten.
Ende der zwanziger Jahre kam es erneut zu zahlreichen Ausbrüchen, Entweichungen, Meutereien und Zwangsmaßnahmen. Die Presse schlachtete die Vorfälle je nach politischer Einstellung aus. Die einen lasteten diese Vorfälle den „Zuchtlosigkeiten des modernen Strafvollzugs“ an, die anderen machten das harte Regime der „Gefangenenhölle Tegel“ verantwortlich.
Am 10. Mai 1932 mußte sich der Publizist und Herausgeber der Weltbühne, Carl von Ossietzky, zum Strafantritt in Tegel melden. Der überzeugte Pazifist war wegen der Veröffentlichung eines Artikels über die geheime Aufrüstung der Reichswehr zu achtzehn Monaten Haft verurteilt worden. Ossietzky wurde nach siebenmonatiger Haft amnestiert. Über Tegel hatte er in der Weltbühne vermerkt: „Ich habe das Gefängnis nicht als ein Haus der gewollten Härte und der traditionellen Quälereien kennengelernt, aber auch so bleibt es ein Haus des Jammers, in dem hinter jeder Eisentür ein anderer trauriger Globus kreist...“
Nach der Machtergreifung führten die Nazis wieder den Vergeltungsstrafvollzug ein. Schon bald war Tegel mit politischen Häftlingen überfüllt. 1937 wurde die Anstalt verpflichtet, der Gestapo von bevorstehenden Entlassungen der politischen Häftlinge Mitteilung zu machen, was eine anschließende Deportation ins KZ bedeutete. Teile der Anstalt wurden für Untersuchungshäftlinge der Sondergerichte und des Volksgerichtshofes reserviert, später wurde auch ein Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis eingerichtet. Einer der Häftlinge war der Dompropst Bernhard Lichtenberg, der in Tegel eine zweijährige Strafe verbüßte, weil er sich in seinen Predigten gegen Euthanasie und Judenverfolgung ausgesprochen hatte. Lichtenberg starb auf dem Weg ins KZ Dachau. Auch der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer saß in Tegel ein, bevor er im April 1945 im KZ hingerichtet wurde.
Bei der Besetzung Berlins fanden die Russen ein verlassenes Gefängnis vor. Die meisten Insassen waren Anfang 1945 westwärts verlegt worden und dabei entweder geflohen oder umgekommen. Die restlichen waren im April freigelassen worden.
Nach der Befreiung wurde Tegel schnell wieder belegt. Zwischen 1955 und 1968 wurde das Zellenhaus III zum Zuchthaus umfunktioniert. Heute sind in dem roten Klinkerbau die Langstrafer untergebracht. Aus der Jahrhundertwende stammen auch noch die Kirche und die Zellenhäuser I und II. Letztere sind technisch auf einem so schlechten Stand, daß 700 Insassen nicht einmal eine Steckdose für ihre Radiogeräte haben.
Die Studentenbewegung machte auch vor der Anstalt nicht Halt: Ende der sechziger Jahre wurde die unabhängige Tegeler Gefangenenzeitung Lichtblick gegründet, die nunmehr 30 Jahre besteht. Immer wieder kam es zu Bambulen und Ausbrüchen. Das schlechte Essen war nur ein Auslöser. Die Lage beruhigte sich erst, als 1970 die Zuchthausstrafe abgeschafft und Vollzugslockerungen eingeführt wurden. 1977 trat das Strafvollzugsgesetz in Kraft, in dem der Resozialisierungsauftrag festgeschrieben ist. Plutonia Plarre
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