: Hüttendorf im Niemandsland
■ Besetzer campieren in Zelten und Hütten auf dem Lenne-Dreieck / Für das Gelände ist DDR-Polizei nicht mehr, West-Berliner-Polizei noch nicht zuständig / Berliner Senat plant auf dem Grundstück sechsspurige Schne
Hüttendorf im Niemandsland
Besetzer campieren in Zelten und Hütten auf dem Lenne
-Dreieck / Für das Gelände ist DDR-Polizei nicht mehr, West -Berliner-Polizei noch nicht zuständig / Berliner Senat
plant auf dem Grundstück sechsspurige Schnellstraße
Das Lenne-Dreieck war immer schon ein merkwürdiges Landstück. Mitten in West-Berlins „Zentralem Bereich“ gelegen, gehörte es dennoch zum Ost-Berliner Bezirk „Stadtmitte“. Doch die Mauer sperrte, um Strecke zu sparen, die Vier-Hektar-Fläche immer schon aus, die geographisch spitz nach West-Berlin hineinragt. An der Bellevuestraße, genau gegenüber dem Lenne-Dreieck - aber auf West -Territorium -, erinnert der Torso des ehemaligen Grandhotels Esplanade daran, daß hier am Potsdamer Platz vor dem Krieg das Herz der einstigen Metropole schlug. Über das Gelände verstreute Mulden weisen heute noch hin auf eingestürzte Kellergewölbe, kaum noch zu erkennen unter wild wucherndem und längst als wertvoll eingestuftem Grün. Das Lenne-Dreieck ist Niemandsland zwischen den Stadthälften.
Seit dem vergangenen Mittwoch jedoch ist es mit der Ruhe vorbei. Besetzer campieren seitdem in Zelten und Hütten auf dem Gelände, genau gegenüber dem „Esplanade“. Schon an die 6O Menschen genießen mittlerweile die Zeltlageratmosphäre, ihre Zahl wächst immer noch. „Falls ihr Bock auf Sommer, Leben, Lachen und Streiten habt“, fordern die Besetzer auf, „dann kommt gefälligst her, damit wir den Platz halten können.“ Nach einem Mann, der sich nach der Kreuzberger Randale-Nacht vom 1.Mai letzten Jahres im Knast das Leben nahm, tauften die Besetzer das Gelände um: in „Norbert-Kubat -Dreieck“. Das Wasser im 1OOO-Liter-Tank liefern legale Dauercamper von nebenan, Spenden fließen nicht nur aus der autonomen Kreuzberger Scene, der die meisten Besetzer entstammen, sondern auch von den Touristen, die immer wieder neugierig stehenbleiben. Die Erdbeeren kommen noch aus der Plastikschale, doch langfristig wollen die Besetzer Kartoffeln und Gemüse selbst anbauen.
Mit ihrer Belebungsaktion kamen die Besetzer jedoch nur einem anderen zuvor: dem Berliner Senat. Im Rahmen eines Gebietsaustauausches geht das Lenne-Dreieck am 1.Juli in seinen Besitz über, und die West-Berliner Stadtregierung hat den Preis von 76 Millionen Mark keineswegs bezahlt, um hier Kartoffeln zu züchten. Geht es nach ihr, dann soll die Hälfte des Grundstücks stattdessen für eine sechsspurige Schnellstraße planiert werden, die den Autobahnring um Westberlins City schließen würde.
Doch die Besetzer, die mit ihrer Aktion (auch) gegen die Autobahn protestieren wollen und „gegen das System, das solche Schweinereien nötig hat“, profitieren vorerst davon, daß der Landaustausch noch nicht vollzogen ist, davon, daß Ost-Berlin sich schon zurückgezogen hat und West-Berlin noch nicht vorrücken darf. Den Zaun um das Gelände hatten Ost -Berliner Grenzer schon vor einigen Wochen entfernt, die Stämme der dabei gefällten Birken bilden jetzt das Gerüst mancher Hütten der Besetzer. DDR-Volks- und Grenzpolizisten, zuweilen auch Volksarmisten mit MPs forderten die Besetzer zwar zunächst mehrmals zum Räumen auf. Doch die Grenzschützer gaben den Kampf bald wieder auf. Mit den Besetzern vereinbarten sie, daß diese sich mit dem Lager auf den Rand des Grundstücks zurückziehen sollten. „Spazierengehen“ dagegen sei überall erlaubt. Stattdessen verlangten sie von der Westberliner Polizei, daß das „Territorium der DDR“ geräumt werde. Die ist einigermaßen sauer: Sie darf auf DDR-Territorium erst recht nicht eingreifen.
So entstand ein rechtsfreier Raum: Schreckbild der West -Berliner Polizei. „Wir leiten alle Maßnahmen der Strafverfolgung ein“, erklärte ein Polizeisprecher gestern barsch. Doch er gab zu: „Leider bereitet uns die Situation Schwierigkeiten, die Maßnahmen auch zu vollstrecken.“ Ein Beispiel vom Montagabend: weil sie sich von einem Besetzer mit einer „Faustfeuerwaffe“ (es war offensichtlich ein Spielzeug) bedroht fühlten, bemühten sich die Wache haltenden Polizisten, den „jungen Mann“ auf der Bellevuestraße festzunehmen. Doch die übrigen Besetzer stürmten rechtzeitig vom Gelände, umringten die Polizisten und vereitelten die Festnahme. Die Polizei zog sich zurück, um auf Verstärkung zu warten. Ehe die da war, waren die Besetzer längst wieder zurückgekehrt auf ihr „DDR -Territorium“.
Folge derartiger Auseinandersetzungen: Die Stimmung auch auf dem Camp wird zunehmend „militant“, das meint auch ein Mitbesetzer. Schon die DDR-Grenzschützer hatten immer wieder Kameras in Stellung gebracht, noch eifriger filmt und fotografiert die Westberliner Polizei. Spätestens ab dem 1.Juli können sie die Bilder gebrauchen. Viele Besetzer laufen nur noch mit Tüchern vor dem Gesicht durch ihr Zeltlager.
Schon von Anfang an hatten sie mit einem Schild Touristen gewarnt: „Fotografieren verboten, füttern erlaubt“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen