: Hühnerhaufen wird doch noch Spitzenteam
Beim 1:0 gegen Dynamo Kiew demonstriert der FC Bayern München mit einer soliden taktischen und spielerischen Leistung, daß man zu Recht das Finale der Champions League erreicht hat. Beim anschließenden Feiern des langersehnten Erfolgs aber geraten Ansprüche, Erwartungen und Vokabeln leicht durcheinander ■ Aus München Matti Lieske
Auf dem Spielfeld hatten Lothar Matthäus und seine Mitstreiter die Sache am Mittwoch abend meist im Griff. Nicht so auf dem verbalen Sektor. Da rutschten dem tapferen Libero der Münchner Bayern die Vokabeln wie so oft ein wenig durcheinander, zum Beispiel, als er im Hinblick auf das Finale um den Europacup am 26. Mai in Barcelona gegen Manchester United verkündete: „Wir wollen dort an die Leistungen anknüpfen, die wir in den letzten Champions-League-Spielen gezeigt haben.“
Das Halbfinal-Hinspiel bei Dynamo Kiew zwei Wochen zuvor, das mit einem glücklichen 3:3 endete, hat Matthäus offenbar gründlich verdrängt. Gemeint waren wohl eher die Partien gegen Kaiserslautern im Viertelfinale und vor allem das Rückspiel gegen die Ukrainer, in dem sich die Bayern mit bundesligaerprobter Souveränität einen 1:0-Sieg und die Qualifikation für das ersehnte Finale erspielten.
Den Unterschied zwischen dem Hühnerhaufen, der in Kiew die 100.000 Zuschauer mit slapstickreifen Fehlleistungen und haarsträubenden Stellungsfehlern amüsiert hatte, und der Mannschaft, die am Mittwoch dem Anspruch gerecht wurde, ein europäisches Spitzenteam zu sein, könnte man zum Beispiel Mario Basler zuschreiben. Auch hier gibt Lothar Matthäus einen vorzüglichen Augenzeugen ab. „Wir haben schon oft gewußt, daß bei ihm zwei Welten aufeinanderprallen“, analysierte der 38jährige in seiner unnachahmlichen Art, „heute hat er sich von einer Welt gezeigt, die wir immer sehen wollen.“
In Kiew hatte Baslers Welt noch ganz gefehlt, da mußte er daheim durch den Wald hetzen, während sich die Genossen in der Fremde sauber blamierten. Nicht nur bei seinem wunderhübschen Tor, als er die Gegenspieler wie ein paar dahergelaufene Bäume aus dem Grünwalder Forst umkurvte, erwies sich, daß ihm frische Luft und freie Natur gutgetan haben. Nach der Partie war das Wort vom „Genie“ in aller Munde, und dieselben Medienvertreter, die Basler wochenlang genötigt hatten, die Fußballschuhe besser an den Nagel zu hängen, begannen stehenden Fußes damit, ihn wieder in die Nationalmannschaft zu beten. Was ein paar gelungene Dribblings doch so alles bewirken können.
Viel eher als die wundersame Rehabilitation des Waldläufers Basler war jedoch — neben der hilfreichen Ausgangsposition — die Lernfähigkeit des Coaches verantwortlich für den Umschwung. Wie schon in der Vorrunde gegen Manchester United zog Ottmar Hitzfeld die Lehren aus dem verkorksten Hinspiel und traf die geeigneten Maßnahmen, um den rigoros offensiven Gegner in Schach zu halten. Die Inkorporation von Thomas Linke, der meist den schnellen Andrej Schewtschenko bewachte, verstärkte die Abwehr um einen Mann, und abgesehen vom kleinen Dynamo-Sturmwirbel in der ersten Viertelstunde kamen die Bayern mit den gefürchteten „Rochaden“ (Hitzfeld) der Ukrainer viel besser zurecht als im Hinspiel. Jeremies gewann unzählige Zweikämpfe, Kuffour hatte Rebrow gut im Griff, Linke wurde gegen Schewtschenko nie alleingelassen, und Kiew zeigte sich zusehends ratloser.
Nachdem die frühen Dynamo- Chancen mit Glück und Kahn zunichtegemacht waren, hoffte das Team von Valeri Lobanowski nur noch auf Schewtschenko, vergaß seine Spielkunst und griff meist zu den bevorzugten Mitteln aller verzweifelten Teams: hohe Flanken und Spiel durch die Mitte. Die Bayern dagegen hofften in der Offensive auf einen Zufall. Als der in der 35. Minute in Gestalt von Mario Basler eintrat, waren die Münchner „psychologisch und taktisch im Vorteil“ (Hitzfeld) und hatten, selbst als in der zweiten Halbzeit selten mehr als drei bis vier Bayern die gegnerische Hälfte betraten, „die klareren Chancen“, wie Münchens Trainer genüßlich vermerkte. Die meisten hatte unglücklicherweise Alexander Zickler, dessen verschwenderischer Umgang mit den gebotenen Möglichkeiten die einzigen Unmutsäußerungen der 60.000 Zuschauer an diesem Abend heraufbeschwor.
Insgesamt war es keine berauschende, aber eine solide Vorstellung des Bundesliga-Tabellenführers, der exakt das tat, was man tun muß, wenn ein Unentschieden zum Weiterkommen reicht. Im Finale wird eine solche Art von Fußball nicht genügen, schon gar nicht gegen Manchester United, das eine ähnlich moderne und offensive Spielauffassung hegt wie Dynamo Kiew, den früh resignierenden Jungstars aus der Ukraine in Turin jedoch demonstrierte, wie man auch unter widrigsten Umständen den Kopf oben behält. Immerhin hatte Ottmar Hitzfeld in dieser Saison schon zweimal Gelegenheit, hautnah den Wirbel zu studieren, den Beckham, Giggs, Cole und Yorke zu veranstalten pflegen. Insofern dürfte Carsten Jancker, der gegen Kiew vor allem als Vorbereiter stark war, nicht ganz daneben liegen, wenn er die Chancen mit fifty-fifty veranschlagt.
Für den Fall, daß die Bayern in Barcelona zwölf Jahre nach ihrer letzten Finalteilnahme im Landesmeistercup tatsächlich schaffen, was ihnen dort gegen den FC Porto verwehrt blieb, hat Uli Hoeneß schon mal vorgesorgt und die Erfolgslatte gleich ein wenig höher gehängt. Als ihn ein englischer Journalist fragte, ob denn die Mannschaft bei Cupgewinn auf eine Stufe mit dem ruhmreichen Team der siebziger Jahre zu stellen sei, wies der damalige Spieler und heutige Manager dieses Kratzen am Mythos entrüstet zurück: „Wir haben den Pokal dreimal hintereinander gewonnen.“
Dynamo Kiew: Schowkowski – Luschni, Golowko, Waschtschuk, Kaladse – Chazkjewitsch, Gusin (82. Kardasch), Belkjewitsch, Kosowski – Schewtschenko, Rebrow
Zuschauer: 60.000 (ausverkauft)
Tor: Basler (35.)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen