Sweet Home Atlanta: Home of the brave Kerri
■ Dick von NBC kommen bei den Tiefen menschlichen Verhaltens die Tränen
Als Annie Leibovitz den neunmaligen Olympiasieger Carl Lewis vor einigen Jahren für ein Werbeplakat fotografierte, erregte das Foto gewaltiges Aufsehen, weil der Sprinter in Stöckelschuhen im Startblock hockte. Jetzt hatte sie ihn wieder vor der Kamera, aber diesmal ist das Ergebnis eher konventionell. Das Foto beginnt knapp unterhalb des Mini- Tangas, den der Leichtathlet als Bekleidung gewählt hat; sein muskulöser, schwarz glänzender Körper ähnelt fast einem griechischen Torso, bloß mit Kopf. Nicht nur bei diesem Foto gerät Annie Leibovitz mit ihren „Olympic Portraits“ gefährlich nahe an Leni Riefenstahls Körperkult-Ästhetik heran.
Im Auftrag des Olympischen Komitees der USA, des OKs und – da auch berühmte Fotografinnen heutzutage Sponsoren haben – eines Herstellers von bunten Uhren ist die Künstlerin 70.000 Meilen durch die USA gereist, um berühmte und namenlose Olympiahoffnungen des Landes zu fotografieren.
Heldin, wie von NBC designt: US-Turnerin Strug Foto: rtr
Das Ergebnis ist in einem Fotoband zu bestaunen, und 75 der insgesamt 117 Schwarzweißbilder sind im Pavillon des besagten Uhrenherstellers im Centennial Park von Atlanta ausgestellt. Das Frauen-Soccer- Team, die Basketballerinnen, Michael Johnson, Gwen Torrence, Mike Powell sind ebenso vertreten wie der Ringer Matt Ghaffari, der mit einem Baumstamm kämpft, und die von einem Lachanfall heimgesuchte Schwimmstaffel um Gary Hall jr. Schwierigkeiten gab es zunächst mit den Boxern, die Geld für die Fotosession forderten. Die meisten Sportlerinnen und Sportler ließen sich jedoch liebend gern fotografieren, berichtet Leibovitz. „Es gab keine Aufnahme, auf der man nicht sieht, wie stolz sie waren.“
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Eines der Fotos von Annie Leibovitz zeigt ein einsames Seitpferd an einem Strand und erscheint wie eine Vorausahnung jenes Turnerwahnsinns, der das Land nach dem Goldmedaillengewinn der US- Frauen erfaßt hat. Die Heldin ist natürlich Kerri Strug, die sich beim vorletzten Sprung bös den Fuß verstauchte und den letzten einbeinig stand. Beim letzten Satz der US-Hymne („home of the brave“) hätte sie während der Siegerehrung getrost ihre Adresse einsetzen können, schwärmte USA Today.
Das ist der Stoff, den auch der olympische Fernsehsender NBC liebt. Dafür zuständig ist Dick Enberg, Spezialist für Schicksalsschläge aller Art. Er gestaltet die tägliche Sendung „Moments“. Als nächstes ist die Story einer Turmspringerin geplant, deren krebskranker Vater nach Atlanta kommt. „Manchmal kommen mir selbst die Tränen, wenn ich meine Manuskripte lese“, sagt Enberg, „ich werde mich nie dafür entschuldigen, daß ich die Tiefen des menschlichen Verhaltens vorführe.“
Das verlangt keiner, vor allem nicht die Oberen seines Senders. Die sportliche Seifenoper kommt prächtig an, die Spiele in Atlanta haben die zweithöchste olympische Einschaltquote aller Zeiten, übertroffen nur von Los Angeles 1984. Damals gab es jedoch noch erheblich weniger Sender. Matti
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