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Hör-Funken

(„Der Boden 411. Eine Tramödie“, NDR 1, 2100 - 2200) Die Tramödie hat nichts mit einer Trambahnkomödie zu tun, sondern nur mit der Tragikomödie des Staates, wenn er, aufgeblasen zum Orwell'schen Schreckgespenst, in den Phantasien sensibler Schriftsteller zu spuken beginnt. Dort sind die Lebensäußerungen fiktiver Staatsunwesen dann oft so grotesk, daß sie schon wieder friedliche Heiterkeit hervorrufen und eben das neue Genre der Tramödie. In dem zum Hörspiel umgebauten Einakter des DDR-Schriftstellers Lutz Rathenow hat sich das Kontrollsystem des fiktiven Staates so perfektioniert, daß nicht einmal Selbstmord fähig ist, seinen Organen zu entkommen. Herr Gerrich knüpft sich auf dem Dachboden mit der Registriernummer 411 gerade den Strick und versucht noch, ihn seinem Hals anzumessen, als er von Beamten des 'Gebäudeschutzes‘ aufgestöbert und zur Rede gestellt wird. Denn das Betreten von Gebäuden zum Zwecke des Verweilens und auch das Abstellen von Gegenständen, wie Herr Gerrich als williger Selbstmörder für Gebäudeschützer einer ist, bedürfen amtlicher Genehmigung. Nach wiederholten Wortwechseln wird er folglich der „Behörde zum Schutz der eigenen Person vor Übergriffen der eigenen Person“ übergeben, wo dann der Prozeß weitergeht, der spätestens seit Kafka bekannt wurde und noch lange nicht endete. Also hat die Tramödie doch etwas mit der Trambahn zu tun, nur daß sie noch immer fährt.

(„Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Tourismus zwischen Anpassung und Rebellion“, Hessen 2, 2200 - 2300) Jedem sein eigener Rimbaud: So die Devise von 335 Millionen Fahrensmenschen ins Fremde und Ferne pro Jahr, nur daß Rimbaud eben ein anderer war als der 335millionste Teil einer Summe von Wonneträumenden, die eine jährliche Kaufkraft von 150 Milliarden Dollars darstellen. Heute wird gereist nach den Hochglanzfolienwonnetraumvorlagen der Reiseprospekte, und Millionen tun ihre Pflicht, aus dem Alltag zu fliehen zu den Abenteuern vom Fließband. Daß sie nur Fließbandabenteurer sind, brachte noch niemanden zur Rebellion gegen die Ausbeutung der Ware Reisekraft, doch wenn's bei Urlaubsreisen am universaltouristischen Lebensstandard mangelt, bricht dumpfes Grollen aus. Keine Reise ist so schön wie die reibungslose, die keine mehr ist. Vom Rebellionsverlust des Reisens klagt die Abendstudio -Sendung rebellisch.

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