: Hobbygeist der DDR
Der Kulturbund versammelte Philatelisten, Zierfischzüchter und Hobbyastronomen. Er existiert weiter ■ Von Rolf Schneider
Der Ort war das Kulturhaus des VEB Elektrokohle Lichtenberg, die Zeit war der Februar des Jahres 1958, das Ereignis der V. Bundeskongreß des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. An seinem ersten Tag saßen im reichbestückten Präsidium mehrere Figuren des obersten DDR-Establishments: Johannes R. Becher, Minister für Kultur, Alexander Abusch, sein erster Stellvertreter, Alfred Kurella, oberster Kulturverantwortlicher im ZK der SED, sowie, allen voran, Walter Ulbricht, Generalsekretär jener Partei.
Ich selbst hockte an einem Pressetisch unmittelbar unter ihm. Ich war seiner noch niemals zuvor ansichtig geworden. Ich schaute neugierig zu ihm hinan. Ulbrichts Teint wirkte glatt und bleich, irgendwie wächsern, doch sein Gesichtsausdruck war der einer äußersten Zufriedenheit. Er grinste in sich hinein. Welchen Grund hatte er? Die Reden, die gehalten wurden, konnten es nicht sein, sie waren öd und langweilig wie politische Reden in der DDR zumeist. Ulbricht applaudierte ihnen mechanisch. Sein Ausdruck von Zufriedenheit blieb unberührt und unverändert.
Den nächsten Tag saß er nicht mehr im Präsidium. Dem Inhalt der an diesem Morgen erschienenen Tageszeitungen durfte ich entnehmen, was es Neues gab: Man hatte soeben eine parteischädigende Gruppe, deren Anführer Karl Schirdewan hieß, aus der SED-Spitze entfernt. Es war dies der letzte Abschnitt jener internen Auseinandersetzungen, die mit der Opposition von Wolfgang Harich und Walter Janka im Herbst 1956 begonnen hatte.
Ich kannte beide Männer ziemlich gut. Wie sie arbeitete ich im Berliner Aufbau-Verlag, der sich seinerseits im Eigentum des Kulturbundes befand und seinen Namen von einem Monatsjournal bezog, Aufbau, das in direkter Verantwortung des Kulturbunds erschien; ich war angestellter Mitarbeiter in dessen Redaktion und mußte deswegen am Pressetisch des V. Bundeskongresses sitzen. Es hatte seinen wohlverstandenen Sinn, wenn Walter Ulbricht seinen heimlichen Triumph betreffend Karl Schirdewan vor eben diese Vereinigung trug.
Der Bundeskongreß war laut Statuten das höchste Organ des für gewöhnlich KB abgekürzten Verbands. Jetzt, Februar 1958, veränderte er seinen Namen in Deutscher Kulturbund, woran er sich vierzehn Jahre lang halten würde, ehe er ihn neuerlich änderte in Kulturbund der DDR. Zum Leben befördert worden war er am 3. Juli 1945 in Berlin. Unter seine Gründerväter hatten der spätere Dissident Robert Havemann und der spätere Gesamtdeutsche Minister in Bonn, Ernst Lemmer, gezählt.
Die Schöpfung war unter Aufsicht der sowjetischen Besatzungsmacht erfolgt, und bei den ersten Aktivisten waren auch viele kommunistische Remigranten gewesen, Literaten vor allem, wie Bodo Uhse, Anna Seghers und Johannes R. Becher, der auch erster Chef der neuen Vereinigung war. In den kargen Hungertagen des ersten Nachkriegsjahres schien alles eindeutig und einfach: Man wollte die Hitlerei geistig hinter sich lassen, man wollte sich neu besinnen, anders denken und anders glauben; der Kulturbund schien dafür ein taugliches Forum.
Sein Buchverlag, Aufbau, druckte fleißig die unter den Nazis verbotenen Dichter. Man richtete Ausstellungen und kulturelle Ereignisse mancher Art aus, um die zwölf Jahre lang indizierte Kunst zurückzuholen. So ging es eine Weile. Es ging nicht sehr lange so. Jetzt fing der Kalte Krieg an, der auch die Intellektuellen ergriff, und für die verschiedenen Disziplinen künstlerischen Schaffens bildeten sich spezielle Berufs- und Interessenverbände.
Die in den deutschen Westzonen und, mehr noch, den Berliner Westsektoren bestehenden Kulturbundableger starben dahin, daß man sich bald fragen mußte, wozu die 1945 mit hehren Worten ins Leben geholte Vereinigung überhaupt noch gut war. Um 1950 traten unter seinem Signet am Berliner Kurfürstendamm die DDR- Dichter Becher und Brecht auf. Es wurden daraus stolze Höhepunkte des ost-westlichen Intellektuellenschlachtens.
Der Kulturbund existierte immer weiter. Er existierte jetzt als eine sogenannte Massenorganisation. Man verstand darunter einen überparteilichen Verband, der im gleichgeschalteten Politgeschäft gleichwohl wie eine Partei behandelt wurde und den es zum Beispiel als Gewerkschaftsbund, als Jugendverband FDJ und als Frauenbündnis DFD gab.
Sie alle zusammen bildeten mit den eigentlichen Parteien das Wahlbündnis Nationale Front, das sich mittels einer einheitlichen Kandidatenliste den politischen Wahlen stellte, die keine waren, und das in allen parlamentarischen Körperschaften saß, vom Gemeinderat bis zum nominell obersten Verfassungsorgan, der Volkskammer.
Man konnte Mitglied im Kulturbund sein und außerdem Mitglied in einer politischen Partei, bevorzugt der SED. Dies war nicht nur die Möglichkeit, es war die Regel. So geschah, daß jemand, der für Kulturbund oder DFD in der Volkskammer saß, der Parteizugehörigkeit zufolge ein Genosse war, was dazu führte, daß die Zahl der SED-Mitglieder dortselbst ungleich größer ausfiel als die Zahl der Mitglieder der SED-Fraktion. Mit solchen Tricks reklamierte die SED ihre führende Rolle in Gremien, die nichts zu sagen hatten und deren Abstimmungen immer einstimmig erfolgten. Ein langjähriger Kulturbundabgeordneter in der Volkskammer war übrigens der postum durch seine Tagebücher zu Bestsellerruhm gelangte Viktor Klemperer.
Der Kulturbund sei eine „umfassende Kulturorganisation, die in ihren Reihen kulturell Tätige und Interessierte, insbesondere Angehörige der Intelligenz der verschiedensten Berufe, vereint und in städtischen und ländlichen Wohngebieten für die Entwicklung des sozialistischen Kulturlebens wirkt“. So, im ächzenden Nominalstil, die Definition, die ein offizielles DDR-Nachschlagewerk vom Jahre 1978 druckte. Sie macht die Zielgruppe auffällig, um die man bemüht war, nämlich die Intellektuellen, und sie umschreibt Aktivitäten, die im bürgerlichen Deutschland ein florierendes Vereinsleben wahrnimmt. In der DDR gab es das nicht. Als Möglichkeit zu unkontrolliertem Tun und Denken wurde es unterdrückt. Was in der DDR als Verein auftrat, war unter das Dach einer staatlich kontrollierbaren Gesamtorganisation getan. Eine davon hieß Kulturbund.
Bei ihm versammelten sich die Zierfischzüchter, die Münz- und Briefmarkensammler, die Amateurastronomen, -funker und -fotografen, er betreute auch die populärwissenschaftlichen Vorträge der „Urania“. Nächst dem Deutschen Turn- und Sportbund existierte in der DDR keine Organisation, die so viele engagierte Mitläufer besaß wie der Kulturbund, denn wie jener war er ein alternativloses Forum der Hobbyisten. Er besaß ein paar eigene Häuser, die hießen „Clubs der Intelligenz“; das nobelste befand sich in der Berliner Jägerstraße. Er gebot über eine Fülle von Zeitschriften: Außer dem (1958 eingestellten) Aufbau waren dies das Wochenblatt Sonntag, die verschiedenen Sammler-Gazetten, die Blätter für Natur- und Heimatfreunde und für Esperanto: selbst dies betrieb man im Kulturbund. Es gab die Pirckheimer-Gesellschaft als Interessenvereinigung für Bibliophile.
Es gab einen eigenen Feriendienst, dem zum Beispiel Ahrenshoop unterstand, eine der edelsten Bäderadressen an der DDR-Ostseeküste. Der Kulturbund hatte zuletzt um die 275.000 Mitglieder, bei denen man, im großen Unterschied zu Angehörigen anderer Zweckverbände im Land, annehmen durfte, daß für sie die Pflicht die Neigung beträchtlich überwog.
Es kam das Ende der DDR. Am 9. Oktober 1989, als in Leipzig die alles verändernde Massendemonstration umlief, weigerte sich die Kulturbundleitung unter ihrem Chef Hans Pischner, dem Berliner Staatsoperintendanten und Cembalisten, etwelche politische Reformen ins Land zu lassen. Sechs Wochen später trat sie zurück. Im März 1990 gab es einen letzten Bundeskongreß, der eine Fortsetzung seiner selbst beschloß. Ebenso befanden sich zu jener Zeit noch andere, etwa die DDR-Künstlerverbände; heute existiert davon keiner mehr.
Den Kulturbund hingegen gibt es. Als Verein ließ er sich schon im Mai 1990 ins entsprechende Register eintragen, und heute hat er bundesweit um die 100.000 Mitglieder; das ist mehr als ein Drittel der einstigen Größe und damit prozentual auch mehr, als etwa der PDS Mitglieder aus der einstigen SED zuwuchsen.
Es gibt weiterhin die Pirckheimer-Gesellschaft. Es gibt weiterhin die Amateurfotografen. Man veranstaltet Ausstellungen, Lesungen, Diskussionen. Man geht in Seniorenclubs, führt Beratungsrunden durch und kooperiert mit Vereinen in Deutschland lebender Ausländer.
Man verfügt über ABM-Stellen und wird von der öffentlichen Hand gefüttert. Mit der Treuhandnachfolgerin führt man zähe Auseinandersetzungen über einst dem Kulturbund gehörende Immobilien. Der Sonntag existiert zwar nicht mehr, da er aufging im Freitag, einem autonomen Blatt für linkes Denken, doch auch der Kulturbund ediert wieder eine eigene Postille: Kultur news, für fünfzig Pfennig das Exemplar, alle zwei Monate neu zu haben.
Man verleiht erneut Ehrenzeichen, die freilich nicht mehr, wie früher, nach Johannes R. Becher heißen, und das höchste Organ trägt inzwischen den Namen Bundesversammlung. Die letzte fand statt im Oktober 1996. In den Reden wurden Rita Süssmuth und Günter Grass zitiert, man bekannte sich zu Multikulti, man erwähnte stolz den Besuch der Politiker Richard von Weizsäcker und Theo Waigel bei eigenen Einrichtungen.
Wenn der Vorstand repräsentativ ist für die Geographie der Mitgliedschaft, was man annehmen darf, handelt es sich nach wie vor um eine fast exklusive Ossi-Veranstaltung, und auch der Verdacht der PDS-Nähe drängt sich auf, läßt sich aus den öffentlichen Mitteilungen aber nicht erhärten. Punkt eins der Grundsätze lautet: „Der Kulturbund ist eine Vereinigung kulturell tätiger Bürger, die sich zur gemeinsamen Gestaltung ihrer Freizeitinteressen zusammengeschlossen haben. Er fördert die Ideen und Projekte seiner Mitglieder und bietet Freiräume für Individualität und Kreativität.“ Damit verglichen klingen Äußerungen von Bündnisgrünen wie bolschewistischer Klassenkampf.
Die Wahrheit ist wohl, daß sich der alte Hobbygeist der Vorwendejahre einfach erhalten hat und weiter fortexistiert. Der Kulturbund war und ist ein zähes soziokulturelles Biotop der alten DDR, in seinem Überlebenseifer vergleichbar der Jugendweihe, den ostdeutschen Zigarettenmarken und den alten SED-Bezirkszeitungen, die es auch sämtlich weiter gibt: unter anderen Vorzeichen. Die neuen Bundesländer sind in vielem ein wenig verschieden von den alten. Aber das wußten wir bereits.
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