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Hobby und Wahnsinn

Telefonkarten, Schildkrötenfiguren, Milchkännchen: Die Menschen sind Sammler. Eine Ausstellung im „Museum der Dinge“ im Martin-Gropius-Bau zeigt ein Panoptikum ihrer Leidenschaften

von KIRSTEN KÜPPERS

Jeden ersten Mittwoch im Monat trifft sich der „Milchportionen-Deckeli-Sammler-Verein“ um 15 Uhr im Wienerwald in Alt-Mariendorf. Dort wird getauscht und gefachsimpelt. Wolfgang Boldt ist Mitglied im Verein. Er hat viele, viele Kaffeesahne-Deckelchen gesammelt. Manche sind mit Schmetterlingen bedruckt, andere mit Filmstars wie Spencer Tracy oder Mae West. Wolfgang Boldt ist Spezialist in einer Welt der Kaffesahneportiönchen. Ist das Sammeln ein Glück? Oder macht es einsam?

„Die Welt kann tatsächlich nicht mehr verstanden werden, aber die Welt kann auch nicht mehr verändert werden. Das einzige, was man tun kann, ist die Welt zu sammeln“, sagt Boris Groys. Das ist zwar keine Antwort, aber immerhin eine Zustandsbeschreibung. Die gesammelte Welt zeigen, nicht analysieren, will auch die Ausstellung „sammeln!“ im „Museum der Dinge“ im Martin-Gropius-Bau: ein schöner Ausflug in das Universum japanischer Telefonkarten, Schildkrötenfiguren und kuhförmiger Milchkännchen.

Die Grenzen zwischen Hobby und Wahnsinn sind fließend. Während man vor der Zollstock-Kollektion steht, laufen über Tonband sympathische Selbstbezichtigungen von Sammlern wie „Ich bin ein Trüffelschwein“ oder „Ich bin manisch“.

Dabei ist Sammeln Alltag. Als Kind ist man darin Profi. Gesammelt werden Buntstifte mit Erdbeergeschmack, Fußballerabziebildchen oder Pokémon-Figuren. Später sammeln manche böhmisches Glas, 70er-Jahre-Kleidung oder sich selbst. Irgendwann kann es geschehen, dass die Passion belastend wird: für die Wohnzimmerregale, das Familienkonto, die Liebesbeziehung.

Im Museum dagegen ist das Sammeln von Kunst oder ausgestopften Tieren allgemein akzeptiert. Wenn das „Museum der Dinge“ jetzt auch privaten Sammlungen die Chance auf Öffentlichkeit gibt, mag das für manchen Sammler darum nicht nur Selbstdarstellung, sondern auch späte Genugtuung sein. Kaffeesahne-Deckelchen-Sammler Wolfgang Boldt kann jetzt seine Filmstar-Serie hinter Glas präsentiert sehen. Sie liegt neben vielen Teesieben und Rasierpinseln. Befreit von ihrem Gebrauchswert und rausgeräumt aus Kartons, Alben und Abstellkammern zeigen sich die Gegenstände im Museum plötzlich anmutig und besonders.

Sammel-Ideen von Künstlern sind in weiteren Räumen der Ausstellung zu sehen. Auch hier gewährt das Einsortieren von Gegenständen in eine Sammelordnung ungewohnte Sichtweisen auf den Alltag. Joachim Schmid sammelt „Gesucht wird ...“-Zettel von entlaufenen Haustieren. An die Wand gehängt, ergibt das einen großen traurigen Zoo.

Sammeln ist Suchen und Finden. Fundstücke sind stets kleine Momentaufnahmen aus dem Leben anderer. Die Sammlung von auf der Straße aufgelesener, weggeworfener Fotos etwa zeigt ein kleines Mädchen im Bikini an einem Strand. Der Künstler fand das Bild in Schnipsel zerrissen 1992 in Belo Horizonte. Gerne träumt man sich das Schicksal des Bikini-Mädchens weiter.

sammeln! Eine Ausstellung im Martin-Gropius-Bau. Bis zum 29. Oktober, dienstags bis sonntags von 10 bis 20 Uhr

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