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Archiv-Artikel

Hitze, Liebe, Leere

Eine schöne Wiederentdeckung: Eric Rohmers Roman „Elisabeth“ von 1946

VON JÖRG SUNDERMEIER

Eric Rohmer gehört neben François Truffaut, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette, Agnès Varda und Claude Chabrol zu den Erneuerern des französischen Films. Die von ihnen ausgehende Nouvelle Vague war eine Kinorevolte der späten Fünfzigerjahre, deren Wirkung kaum mit der des heutigen Dogma-Getues vergleichbar ist. Rohmer, langjähriger Chefredakteur der Filmzeitschrift Cahiers du Cinéma, gab dem Wort Autorenfilm eine besondere Bedeutung, zumal viele der fast nur aus Dialogen bestehenden Nouvelle-Vague-Drehbücher später als „Filmromane“ erschienen und sich so gut lesen wie sonst nur die Drehbücher von Fellini.

Rohmers Liebe zur Literatur beweisen allein die „Sechs moralischen Erzählungen“, die erste seiner berühmten und von vielen ihrer vermeintlichen Langatmigkeit wegen gefürchteten Serien. Diese basiert auf sechs Novellen, die diese Bezeichnung auch verdienen. Die Novellen waren eben nicht nur einige zum Teil doch sehr vage um Beschreibungen ergänzte Dialogfolgen, sondern im klassischen Stil geschriebene Texte, deren immer gleiche Handlung in der Serie noch einmal ihren besonderen Reiz gewinnt: Ein Mann begehrt eine Frau, darf das aber nicht, weil er sich versprochen hat, sie vergeben ist oder zu jung, und er hält sich nun, so gut er kann, zurück.

Rohmer also ist Literat und nicht nur schreibender Filmer. Nur erschienen die erwähnten Novellen erst nach ihrer filmischen Umsetzung, hierzulande sogar in einer Filmbuchreihe. Nun aber hat der Verlag Rogner und Bernhard einen Schatz gehoben, der offensichtlich auch in Frankreich nicht als solcher bekannt war – 1946 erschien bei Gallimard ein Roman von Eric Rohmer unter dem Pseudonym Gilbert Cordier. „Elisabeth“ heißt das Buch und bietet eine angenehm leichte Lektüre. Es ist Sommer, die Hitze lastet auf den Menschen, auf einigen aber auch die späte Pubertät. Die sehr junge Claire vergnügt sich, indem sie flirtet, zugleich aber Kinder hütet; Bernard verliebt sich leichthin, aber ohne Erfolg; Michel wiederum benimmt sich seltsam seiner Verlobten Irene gegenüber, merkt, dass er nicht zu ihr findet. Er bedrängt sie, sie weint. Michel täuscht dann einen Auftrag im Ausland vor und erwartet vielleicht, dass Irene ihn zu halten versucht. Sie lässt ihn gehen. Er flirtet mit einer Studentin, auch sie versteht er nicht. Diese findet jedoch Gefallen an seinem merkwürdig verlogenen, gehemmt aggressiven Verhalten, doch sie lässt sich nicht verführen. Schließlich trifft er in der Stadt zufällig Elisabeth, die dem Roman den Namen gibt, zweifache Mutter und gute Seele, seine Urlaubsgastgeberin und Nachbarin. Der Roman scheint ganz zufällig nach jener Elisabeth benannt zu sein – sie ist nichts als die Mutter, einzige Verbindungsperson zwischen allen Figuren. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann durchaus wohlhabend, hat eine Haushälterin, leidet unter der Hitze und bekommt einen Ohnmachtsanfall. Doch immer wenn ihr geholfen werden soll, winkt sie ab. Elisabeth ist bescheiden, nein, danke, geht schon. Michel, der versucht, unbescheiden zu sein, der auszubrechen versucht, weiß nicht, wohin. Er verstrickt sich heillos in Lügen und scheint am Ende froh, zu Irene zurückgekehrt zu sein.

Der ganze Roman spielt im Sommer 1939, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Bernhard und Michel dürften bald eingezogen werden, das Land wird besetzt und das Bürgertum, das hier so sehr mit nichts anderem als der Hitze und leichten Liebesanfällen ringt, endgültig besiegt sein.

So sah es nicht nur 1946 der damalige Mittzwanziger Rohmer – das liberale Bürgertum konnte sich in ganz Europa nie mehr rekonstituieren, es blieb nach dem Zweiten Weltkrieg immer eine Parodie seiner selbst. Zugleich zeigt dieser feine, seltsam unpsychologische Roman, der, anders als in den Vierzigern üblich, nicht das Seelenleben der Figuren austariert, sondern fast nur ihre Handlungen beschreibt, dass dieses leere Weitermachen, das das Bürgertum nach dem Krieg prägte, schon davor angelegt war – die Figuren grenzen ihre Sehnsüchte ein, handeln nach Konventionen und erlauben sich keine Ausbrüche. So bleiben sie schön, unverletzbar und wirken bereits mit 19 Jahren altbacken.

„Elisabeth“ ist keine große Literatur, aber ein guter Roman. Schon 13 Jahre vor seinem ersten Spielfilm konnte Rohmer diese Dialoge schreiben, in denen scheinbar nichts gesagt wird, und für die so viele seine Filme verachten. Dabei ist Rohmer derjenige, der als Autor wie als Regisseur zeigt, wie viel hinter den vermeintlich leeren Worten stehen kann – auch ein Dialog über Pascal kann ein Flirt sein. Und zugleich ist Rohmer der Chronist dieses intellektuellen, nun völlig untätigen Bürgertums, das die Französische Revolution übrig gelassen hat, das einfach nur da ist, aber selbst nicht mehr weiß, warum. Es heißt, Rohmer hätte anfangs gegenüber dem späteren Übersetzer des Buches, Marcus Seibert, nicht zugeben wollen, diesen schönen Roman verfasst zu haben. Man kann nicht sagen, was diese Weigerung motiviert haben könnte.

Eric Rohmer: „Elisabeth“. Aus dem Französischen von Marcus Seibert. Roger und Bernhard, Hamburg 2003, 240 Seiten, 14,80 Euro