: Historische Feindbilder bleiben lebendig
Vor dem Nato-Gipfel nächste Woche in Brüssel lobbyen die Staaten Ost- und Mitteleuropas verstärkt für ihre Aufnahme in das Bündnis: Nicht zuletzt wegen des Wahlerfolgs des Großrussen Schirinowski fürchten sie den ehemaligen „Bruder“ im Osten.
Osteuropäer haben historisches Bewußtsein. Die Menschen kennen die leidvolle Geschichte ihrer Länder, übertragen sie auf die heutige Situation – und begründen damit ihre Politik. Letztes Beispiel dafür ist der Wunsch nach einer schnellen Aufnahme in die Nato. Die Polen sehen angesichts der jüngsten Äußerungen des Großrussen Wladimir Schirinowski die nächste polnische Teilung voraus, Tschechen erinnern an die Appeasementpolitik vor dem Münchner Abkommen 1938. Alle zusammen prognostizieren ein zweites „Jalta“. Ohne aus den Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg Lehren zu ziehen, so die einhellige Meinung, sei Westeuropa offenbar erneut bereit, die Herrschaft Rußlands über Osteuropa hinzunehmen. Vom Westen wird daher eine Politik gefordert, die sich an der „harten Haltung“ des Nato-Doppelbeschlusses 1979 orientiert. Damals, so heißt es heute, hätten sich die Russen schließlich auch gebeugt.
Mit neuem Leben versehen werden in den Ländern der Mitte Europas aber auch historische Feindbilder. In Böhmen und Mähren wird „den Russen“ seit dem Prager Frühling ohnehin nichts Gutes zugetraut. Der polnische Außenminister Olechowski bestreitet zwar eine „Furcht Polens vor Rußland“, nimmt aber anderseits wie selbstverständlich an, daß das Sicherheitsvakuum zwischen Rußland und den Nato-Ländern die Russen zu „gefährlichen Reaktionen provozieren könnte“. Für Ungarns Premier Antall stellt schon eine bloße „Schwächung“ der Reformkräfte in Rußland eine größere Gefahr dar als bereits bestehende Konflikte in den Nachbarländern. Der Wahlerfolg Schirinowskis scheint da alle Befürchtungen zu bestätigen.
Was die Wahrnehmung des angeblichen russischen Imperialismus betrifft, so hinkt der Vergleich mit der Zeit des Kalten Krieges. Damals hatte es der Westen mit einem Gegner zu tun, der sich stark fühlte, auch wenn er es schon gar nicht mehr war; die harte Haltung half auch der demokratischen Opposition im sowjetischen Herrschaftsbereich. Heute steht die russische Regierung auf wackligen Beinen – und das weiß sie auch. Jede weitere Niederlage – und der Nato-Beitritt Osteuropas wäre eine solche – würde zu ihrer weiteren Schwächung und gleichzeitig zur Stärkung ihrer nicht gerade demokratischen Gegner führen. Und im Unterschied zu heute gaben 1938 die Alliierten dem Aggressor (Hitler) nach und die Demokratie (Tschechoslowakei) auf, während sie heute durch eine „russenfreundliche“ Politik eine entstehende Demokratie (Rußland) wenigstens in Ansätzen vor dem Aggressor im eigenen Land (Schirinowski) zu bewahren versuchen
Tatsächlich sind nicht nur demokratisch gesinnte Armee-Vertreter, sondern auch solche Jelzin- Gegner wie die Regierungsmitglieder Tatarstans der Ansicht, daß die russische Armee derzeit kaum einsatzfähig ist. Nach westlichen Analysen schrumpfte der Wehretat seit 1989 um rund 34 Prozent, über 50 Prozent des Budgets mußten angesichts der Inflation schon allein für den Unterhalt von Armee und Flotte ausgegeben werden. Die Beschaffungsausgaben sanken 1992 real auf ein Sechstel des Vorjahres. Und auch wenn in Ost- und Westeuropa als Beleg für die beabsichtigte Wiedererrichtung der Moskauer Herrschaft über die Republiken der Ex-UdSSR immer wieder der Truppeneinsatz der russischen Armee in Georgien herangezogen wird, so wird dabei übersehen, mit welchen Problemen Moskau bei dem Beschluß zum Einsatzbefehl zu kämpfen hatte. Das „Afghanistan-Syndrom“ wirkt fort, und keinem russischen Verteidigungsminister fällt es leicht, den Angehörigen der gefallen Soldaten den „Sinn“ dieser Opfer zu erklären. Außerdem würde nach Ansicht des russischen Botschafters in Prag die Moskauer Regierung keinen Einspruch erheben, wenn auch Tschechien im Rahmen einer friedenschaffenden Maßnahme seine Soldaten nach Georgien schicken würde.
Während Osteuropa immer öfter und immer vehementer seine Sicherheitsinteressen formuliert, verschwendet es kaum einen Gedanken auf die russische Wahrnehmung einer Bedrohung von außen; schließlich wäre bei einer Nato- Mitgliedschaft Mitteleuropas Rußland nur noch durch die Ukraine und Weißrußland von Einflußgebiet des Westens getrennt, bei einer Mitgliedschaft auch Lettlands und Litauens fiele die Nato- Grenze mit der russischen zusammen. Der Chef des russischen Auslandsnachrichtendienstes, Primakow, hat Ende November erklärt, daß es weiterhin „keine hinreichende Klarheit über die Perspektiven einer Transformation der Nato“ gebe und so die Realität nach wie vor von den Stereotypen des Blockdenkens beherrscht würde – denen zufolge Rußland sich bedroht fühlt. Die Geheimdienststudie zeigt jedoch auch, daß „viele Befürchtungen, die sich mit dem Nato-Beitritt Ostmitteleuropas verbinden, wegfallen oder sich abschwächen könnten“, wenn es Garantien für einen Funktionswandel des Bündnisses gebe.
Osteuropa hat in den Jahren seit 1989 die Beziehungen zu Rußland vernachlässigt. Man fühlte sich überlegen, alles strebte nach Westen. Die Überlegung, daß auch Tschechen und Ungarn, Polen und Slowaken den Demokratisierungsprozeß in Rußland stärken könnten, gab es nie. Aber auch untereinander betrachteten sich diese Staaten nicht als natürliche Verbündete in Mitteleuropa; jeder suchte allein sein Heil bei EG und Nato. Und letztere sollte das jeweils eigene Land vor den Problemen der anderen schützen. Sollte es zum Beispiel zu einem ungarisch-slowakischen Konflikt kommen, so müßte die Nato die ČR vor dessen Ausweitung schützen.
Da genau dies die Nato jedoch nicht tun wird und auch die Diskussion über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem bisher nicht vorankommt, zeichnen sich für Osteuropa zwei Entwicklungsperspektiven ab. Angesichts der Zuspitzung der innenpolitischen Sicherheitsdiskussion werden die Regierungen mit einer Renationalisierung ihrer sicherheitspolitischen Zielvorstellungen und daher mit dem zügigen Ausbau der nationalen Armeen reagieren. Diese Option dürfte jedoch schon bald an ökonomischen Zwängen scheitern. Möglich wäre aber auch die Intensivierung beziehungsweise der Beginn einer osteuropäischen und osteuropäisch-russischen Zusammenarbeit – gestärkt durch wirtschaftliche und nicht militärische Unterstützung aus dem Westen. Sabine Herre
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