: Hinterm „Hurizont“ geht's weiter
„Strichspaziergang“ durch Berlin: Prostituierte erklären ihren Beruf und werben für politische Ziele / Den diskriminierenden Mythen ein Ende und für die Sexarbeiterinnen eine Perspektive ■ Aus Berlin H. Monath
Was den Abrüstungsunterhändlern Paul Nitze und Juli Kwizinski vor elf Jahren in Genf recht war, ist den Berliner Huren billig. Auch beim entspannten Gehen läßt sich Politik machen, heißt die Lehre aus dem legendären „Waldspaziergang“. Die Selbsthilfeorganisation „Nutten und Nüttchen“ hat sie beherzigt. Alle 14 Tage laden ihre Mitarbeiterinnen zum abendlichen „Strichspaziergang“ durchs Quartier – zu Sightseeing und Aufklärung über Sexualität als Dienstleistungsunternehmen, zu zwei Stunden Kulturgeschichte und politischen Forderungen nach staatlicher Anerkennung der Prostitution als schützenswertem Gewerbe.
Vor der Szenekneipe „Zosch“, wo sich in Blumenkübeln Brennesseln im Wind biegen, drängen sich Fernsehteams und brave Bürger. Das abgewrackte Quartier um die Oranienburger Straße in Ostberlin gilt seit der Wende als das Schrillste, was die Metropole hergibt. „Wir scheißen auf Olympia“, verspricht das Transparent, das von der bröckligen Fassade flattert. Auf der nahen Kneipenmeile zwischen Synagoge und Künstlerzentrum Tacheles paradieren am Straßenrand nachts junge Frauen mit hautengen neonfarbenen Bodies und langen Beinen in Netzstrümpfen oder Schaftstiefeln.
Vor dem „Zosch“ macht erst der Auftritt von Laura Méritt („Mit Accent und zwei t“) der Verlegenheit ein Ende, wer denn nun die professionelle Führerin aus dem Milieu sei. Gleich wird der Obolus von 15 Mark für den Spaziergang abkassiert. Unter den gut ein Dutzend Gästen bilden zwei TV-Teams, zwei Radiojournalisten und ein Zeitungsschreiber eine deutliche Medienmehrheit, die dem Geschäft und dem politischen Anliegen nur nützen kann.
Laura Méritt in langem schwarzen Lackmantel und Stiefeln mit hohen Absätzen ist ein dankbares Bildmotiv, auch wenn sie nur erklärt, was es mit „Hurizont“ auf sich hat. Dahinter verbirgt sich das Hurenarchiv, das die „sogenannten unanständigen Frauen“ (Laura Méritt) vor einem Monat in dem alten Fleischerladen neben der Szenekneipe eingerichtet haben: „Damit ihr von der Presse nicht immer die gleichen beschissenen Fotos bringt.“ Ihr Bild in der Öffentlichkeit, das wollen politisch bewußte Huren selbst bestimmen.
Prostitution ist für Laura Méritt kein Notbehelf, sondern ein freiwillig gewählter, anstrengender Beruf, der außerordentliche psychische wie physische Fähigkeiten erfordert. „Kontaktfreudigkeit, Menschenkenntnis, Einfühlungsvermögen“ nennt die Führerin. Ihren Alltag beschreibt sie so sachlich und allgemein wie der Berufsberater vom Arbeitsamt dem Schulabgänger einen unbekannten Job. Huren-Selbsthilfeorganisationen wie Hydra aus Berlin, Kassandra aus Nürnberg oder „Huren wehren sich gemeinsam“ (HWG) aus Frankfurt haben längst eine „Berufstätigkeitsbeschreibung“ erarbeitet. Die „gleichzeitige bzw. abschließende typgerechte Konversation“ ist darin ebenso aufgelistet wie die „Durchführung der vereinbarten Dienstleistung unter Berücksichtigung sexualhygienischer Maßnahmen“. Ziel ist die Befreiung des Berufs vom gesetzlichen Verdikt der „Sittenwidrigkeit“. Aber die Bundesregierung bleibt hurenfeindlich. Prostitution sei „sozial unwertig“ und damit nicht vereinbar mit den Vorschriften des Gewerberechts, hieß es kürzlich in der Antwort auf eine Anfrage von Bündnis 90/Grüne.
Wer sexuelle Dienstleistungen anbietet, muß keine Sozial- und Rentenversicherung abschließen, obwohl die erzielten Gewinne versteuert werden, wobei Finanzbeamte laut Laura in die Wohnung kommen und nach der Qualität der Möbel und Klamotten die Einnahmen schätzen. Daß Huren und ihre Kunden von der Polizei in eigenen Listen gespeichert werden, geht ihnen ebenfalls gegen den Strich. Und der gesetzliche Schutz einer „Sexarbeiterin“, etwa vor Vergewaltigung, reicht in ihren Augen nicht an den einer „normalen Frau“ heran. Dabei besteht der Unterschied zwischen Nutten und Nüttchen laut Laura nur darin, daß letztere es ohne Geld tun. Von „Aussteigen“ möchte Laura nicht sprechen, aber als „Umsteigeprogramm“ kann sie sich für Kolleginnen eine Tätigkeit als Filmberaterinnen mit Milieukenntnissen oder als Flugbegleiterin für den Urlaubstrip vorstellen.
Berlin, die Stadt ohne Sperrstunde und ohne Sperrbezirke, ist ein Sonderfall in der Bundesrepublik – und das soll nach dem Willen der Frauen von „Nutten und Nüttchen“ auch so bleiben: In keiner anderen Stadt arbeiten so viele Prostituierte auf eigene Rechnung, ohne das Diktat eines Zuhälters, und können so „ihr Leben autonom bestimmen“, wie Laura das in bestem Szenedeutsch nennt.
So sachlich die Forderungen der „Sexpertin“ (Laura über Laura) zu ihrem Gewerbe, so schwärmerisch klingt die Beschwörung der großen Zeit der Zwanzigerjahre: „Da waren hier überall Puffs.“ Über Erzählungen von berühmten Kolleginnen wie „Knochenrieke“ und „Lutschliese“ geht es über Hinterhöfe mit längst geschlossenen und vergessenen Lesbenbars in die „Mulackritze“, eine der „berühmt- berüchtigsten Absteigen“ jener wilden Zeit zwischen den Kriegen.
Über sich selbst hat Laura den neugierigen Journalisten nur wenig Auskunft gegeben, als nach zwei Stunden Schluß ist mit dem Strichspaziergang – rechtzeitig bevor die Kolleginnen an der Oranienburger Straße erscheinen. Nur soviel: 33 Jahre ist sie alt, und an den Straßenrand wird sie sich heute abend nicht stellen. Nach sieben Jahren Arbeit für Männer bietet Laura ihre Dienstleistungen nur noch Frauen an.
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