: Hier lieben alle Bürger Mitterrand
■ Die letzte offizielle Reise des Staatspräsidenten führte ihn zu den Ursprüngen seiner politischen Karriere zurück / Die Bekanntgabe seiner Kandidatur ist nur noch eine Formalität
Aus Chateau–Chinon G. Blume
Diesmal bin ich dem Präsidenten der Republik eine Antwort schuldig. Zufällig hatte ich ihm in die Augen geschaut, und schon hatte er mich am Ärmel: „Ist es nicht schön, Chateau–Chinon?“ So schnell konnte ich nicht antworten. Als ich dann mit den Schultern zuckte, huschte sein Blick schnell vorbei. Dabei hätte ich gerne etwas gesagt. Chateau–Chinon ist nämlich nicht irgendein französisches Provinznest in der Bourgogne mit Kirchturm und Kriegerdenkmal - es sieht nur so aus. Chateau– Chinon mit seinen 4000 Einwohnern ist ein historischer Ort. Hier sind alle Dächer mit dem gleichen schwarzen Schiefer gedeckt, denn Mitterrand wollte es so. Hier gibt es einen Tennisplatz, und wer schuf das Jugendzentrum? Hier lieben alle Bürger den Präsidenten der Republik, denn er war 22 Jahre lang ihr Stadtoberhaupt. Kurz und gut: Chateau–Chinon ist Mitterrand–Frankreich, so wie kein anderer Fleck in diesem Land. Der Präsident kam am Donnerstag. Für seine letzte offizielle Reise innerhalb Frankreichs vor der Wahl wählte er die Rückkehr in die politische Heimat. Symbol für einen neuen Aufbruch? Zweihundert Journalisten waren gekommen, um endlich Endgültiges über die Entscheidung des Präsidenten zu erfahren. Kandidat sein oder nicht sein? lautet seit Monaten die Mitterrand–Frage. Inzwischen weiß jeder die Antwort, doch nur einer kann sie geben. Längst will Mitterrand nicht mehr Zweifel erwecken. In Chateau– Chinon ist er Kandidat, ohne es zu sein. Das ist sein bester Wahlkampf. „Erst wenn er gewählt ist, werden die Franzosen merken, daß er Kandidat war,“ erklärte kürzlich Mitterrands ehemaliger Premierminister Fabius diese Wahlkampfstrategie. Die Rechnung ist einfach: Populär ist Mit terrand nicht als sozialistischer Präsidentschaftskandidat, sondern als das, was er ist - Präsident der Republik. Präsident ist er auch in Chateau– Chinon. Von Sozialismus keine Rede. Aber Mitterrand tut, was er nicht lassen kann. Er sucht die Symbolik, die eigene Ewigkeit. In Chateau–Chinon weiht er an diesem Tag einen Springbrunnen ein, modern, bunt, phantasievoll - für 1,5 Mio. Mark aus der Staatskasse. Die Künstler hatte er vom Elysee–Palast aus bestellt. Heute freut sich Chateau–Chinon über „das Geschenk des Präsidenten der Republik“. Frankreich gönnt Mitterrand seine Macken. Über das künstlerische Erbe Mitterrands weiß heute jeder Bescheid, denn es ist erfüllt: von der neuen Glaspyramide des Louvre bis zum Springbrunnen in Chateau–Chinon. Unklarheit besteht nur über das politische Erbe des Präsidenten. Was treibt ihn zu der erneuten Kandidatur? In Chateau– Chinon kommt man den Dingen auf die Spur, denn hier hinterließ er bereits nach seinem Wahlsieg vor sieben Jahren seine politische Erbschaft. Doktor Rene–Pierre Signe ist heute Bürgermeister von Chateau–Chinon. Er empfängt den Gast auf der Treppe seines Rathauses, von der sein Vorgänger seine ersten Worte als Präsident gesprochen hat. Rückblende, Mitterrand am 10. Mai 1981 in Chateau–Chinon: „Dieser Sieg ist zuallererst ein Sieg der Kräfte der Jugend, der Arbeit, des Schöpferischen und der Erneuerung, die sich zusammengefunden haben zu einer großen Bewegung für die Arbeit, den Frieden und die Freiheit.“ Doktor Signe aber hat für solche Nostalgie wenig Sinn: „Wenn Mitterrand im Mai wiedergewählt wird, dann deshalb, weil ihn heute eine Aura umgibt, weil er Prestige hat, weil er ein Mann ist, dem man Vertrauen gibt, von dem man weiß, daß er in den großen Augenblicken hart sein wird.“ Kein Wort über die Kräfte der Jugend und der Arbeit. Signe erklärt das so: „Was die wirtschaftliche Ebene betrifft, haben die Franzosen nach fünf Jahren sozialistischer Regierung und zwei Jahren Chirac den Eindruck, Linke und Rechte hätten unentschieden gespielt. Deshalb wird man über Mitterrand nicht aufgrund der Wirtschaftspolitik urteilen.“ So einsichtig und klar analysiert man in Frankreich selten die Popularität des Präsidenten. Signe ist Pragmatiker wie Mitterrand. Er ist kein eingefleischter Sozialist vom Land, seine politischen Freunde hat er bei den liberalen Rechten. Zu ihnen gehört auch Doktor Thenault, Bürgermeister von Montsauche, einem kleinen Dorf nördlich von Chateau–Chinon. In Montsauche erhielt Mitterrand 1949 sein erstes politisches Mandat als lokaler Abgeordneter. Die Gemeinde wählte bei den Parlamentswahlen 1986 zu 55 Thenault zum Bürgermeister. Thenault: „Die politische Links– Rechts–Konfrontation hat in Frankreich keinen Sinn mehr. Das Problem Mitterrand besteht heute darin, ob er ein politisches Zentrum schaffen kann. Die Cohabitation mit Chirac war vielversprechend. Jetzt geht es darum, etwas besseres, tragfähigeres als die Cohabitation aufzubauen.“ Thenault und Signe empfangen den Präsidenten an diesem Donnerstag mit Stolz. Sie wissen, er fühlt sich wohl bei ihnen. Hier kommt er nicht in eine linke Hochburg, sondern in geordnete Provinzverhältnisse. Chateau–Chinon liegt im Zentrum Frankreichs. Die Lokalzeitung nennt sich „Zentrumsjournal“. Die Politiker denken zentrumsnah in jeder Hinsicht. Und die Dächer sind schwarz. Leider, muß der Präsident denken, noch ist das Erbe von Chateau–Chinon in Paris nicht verwirklicht: Grund genug für die Kandidatur des Präsidenten. Wenn mich der Präsident eines Tages fragen kann: „Ist es nicht schön, Frankreich?“, dann ist es zu spät für eine Antwort.
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