■ Press-Schlag: Hertha und der aufgeklärte Fan
Lange Zeit galt der fortschrittliche Berliner Fußballanhänger als Kosmopolit. Heimisch war er vor allem in fremden Stadien: am Millerntor, im Dreisamstadion oder – wenn ihm der Sinn für den Erfolg noch nicht völlig abhanden gekommen war – auch im Dortmunder Westfalenstadion. Sprach man den aufgeklärten Berliner Fußballanhänger auf die eigene Stadt an, fielen zumeist Stichworte wie Türkyiemspor, FC Union oder FC Internationale.
Damit ist nun Schluß. Hertha ist erstklassig, und will der fortschrittliche Berliner Fußballanhänger nicht endgültig als ballfremder Sektierer abgestempelt werden, muß er wohl oder übel auch vor der eigenen Haustür, sprich dem Olympiastadion kehren.
Aber kann man das tatsächlich: sich arrangieren mit einem Leben in der Bundesliga? Mit einer Hertha, die trotz Modernisierung zur – die Insel läßt grüßen – „neuen Hertha“ noch immer reichlich unappetitlich ist?
Vielleicht, wenn da nicht diese Berliner Sucht nach Erstklassigkeit wäre. Jedermann weiß, wenn er sonst auch nichts weiß (Karl Marx), daß die Betonung der Superlative namentlich in Berlin ein Indikator für die Provinzialität einer Stadt ist, die außer Hauptstadt noch nichts geworden ist: nicht einmal Austragungsort für das nächste Hallenmasters. Und nun der Aufstieg von Hertha: „Wir sind wieder wer!“ jubelt die Bild-Zeitung, und zum Saisonauftakt wird der Bundeskanzler nebst Bundesberti und Landeseberhard Diepgen verkünden, wie toll es wäre, wenn Hertha pünktlich zum Regierungsumzug um die Meisterschaft mitspiele. Standort Hertha?
Kein Grund zur Panik. Das Schönste an der launischen Diva Hertha waren noch immer ihre Niederlagen. Wenn erst einmal Duisburg oder Bielefeld an der Berliner Erstklassigkeit zu kratzen beginnen, dürfen auch die aufgeklärten Fußballanhänger wieder vor fremden Stadien kehren. Und Eberhard Diepgen wird dann eben Dauergast bei Alba. Uwe Rada
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