: Heroensieg im Chaos
■ Die amerikanische Autorin Leslie Marmon Silko liest heute im Amerikahaus aus ihrem „Almanach der Toten“
500 Jahre nach der blutigen Aneignung des Indianerlandes durch die Weißen ist Tuscon, Arizona, ein Ort der Entwurzelten und der Gestrandeten. Alles scheint aus den Fugen geraten, nichts wirkt mehr normal. Korruption und Perver-sion, Drogen- und Waffenschmuggel, Anarchie und Chaos sind an der Tagesordnung. Endlich ist der Zeitpunkt gekommen, an dem die 60jährige mexikanische Indianerin Lecha Cazador ihren Auftrag ausführen kann. Eigentlich wollte sich die „Wahrsagerin“ schon zur Ruhe setzen in ihrem Rollstuhl, vollgepumpt mit Schmerz- und Auf-putschmitteln, doch Lecha ist im Besitz des wertvollen „Almanachs der Toten“, der Stammesgeschichte der enteigneten und ermordeten Indianer.
Die Geschäftsfrau hat ihre „Gabe“, Tote aufzuspüren, schon gewinnbringend in Talkshows eingesetzt, bis sich das Wissen um „das tiefe Gefühl des Verlustes in der westlichen Welt“ ihrer bemächtigt hat. Überall im Land finden sich Sympathisanten zusammen, und der Kampf gegen die zerbröckelnden Überreste einer selbstsüchtigen und kriminellen Gesellschaft beginnt ...
Leslie Marmon Silkos Almanach ist ein nahezu perfekt konstruiertes, 1000seitiges Konvolut über Verrat, Verachtung und Verfall einer Gesellschaft, die die Seelen ihrer Kinder frißt. Dabei ist Silko, die selbst von Indianern abstammt und in einem Reservat in New Mexico aufwuchs, klug genug, ihre Moralgeschichte Amerikas nicht als ethnischen Konflikt aufzuziehen. Der Mißbrauch von Macht durchdringt alle Bestandteile der Gesellschaft.
Ein Menschenleben ist billiger als ein Kilo Koks – warum sich also die Hände schmutzig machen, scheint der skrupellose und schwerreiche Beaufrey zu denken, als er der Exfrau seines Lovers das Baby wegnimmt, um es in seinen „Autopsie-Filmen“ zu ermorden. Silkos Protagonisten sind nicht selten psychisch schwer gestört, sie mutet ihren Lesern ein ganzes Bataillon lebendiger Alpträume zu. Obdachlose werden „abgeerntet“, angeblich harmlose Gefährten entpuppen sich als brutale Sexisten, Sklaverei ist Lustgewinn.
Silkos Roman liegt ein zyklisches Strukturprinzip zugrunde, das der Zeitbeschreibung bestimmter indianischer Philosophien entspricht. Die Rache für das Verbrechen an der Erde, auch ein Thema indianischer Mythen, kulminiert in einer höchst bizarren, humorvollen, ironisch-explosiven Utopie: Ökokrieger sind fest entschlossen, eines Nachts den Vereinigten Staaten endgültig das Licht auszublasen, während die Blicke der Überlebenden der zivilisatorischen Anarchie der Großen Steinernen Schlange folgen, Richtung Süden, aus der die Heldenzwillinge nahen, um den letzten Kampf der Indianer um ihr Land einzuleiten.
Karin Midwer
Leslie Marmon Silko: „Almanach der Toten“, erschienen bei Rogner & Bernhard, 59 Mark
Die Autorin liest heute im Amerika-Haus, Tesdorpfstr. 1, 19 Uhr
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