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Archiv-Artikel

robin alexander über Schicksal Heiteres Politische-Morde-Raten

19 nackte Schoko-Nikoläuse standen auf dem Tisch. Damit begann die Entgrenzung der Gewaltfantasien

Bis vor kurzem hatten wir sehr viele Schokoladennikoläuse zu Hause. Nicht, dass wir sie irgendwie gut fanden oder gar sammelten. Wir hatten sie einfach, in verschiedenen Bücherregalen, in Küchenecken, zwei im Gemüsefach des Kühlschranks, einer stand seltsamerweise zwischen den Shampooflaschen auf dem Badewannenrand. Übriggebliebene aus drei Adventszeiten. Verschont, weil wir Weihnachten nie in unserer Wohnung verbringen und meine Freundin, die in der DDR aufwuchs, nichts wegwirft, was glitzern verpackt ist.

Schon länger machten unsere Freunde Witze über die vielen Schoko-Nikoläuse. Vor zwei Wochen liefen sie dann kichernd durch die ganze Wohnung, guckten in alle Ecken und Schränke, zogen Schubladen auf und arrangierten die gefundenen Nikoläuse zu einer Gruppe. Und am Freitagabend drauf brachten sie sogar selbst welche mit: alle, die sie noch bei sich, bei Mitbewohnern und Freunden oder im Büro gefunden hatten. Das sollte witzig sein. Auf unserem langen Tisch standen schließlich neunzehn Hohlkörper aus Schokolade, verschiedene Jahrgänge, von teuren Markenfirmen und günstigen Discountern, aus Deutschland und Frankreich, die meisten in Rot, einige in Lila, einer tatsächlich in weißer, katholischer Bischofstracht, einer aus dem Fanshop des FC Schalke 04, außerdem ein weißer Schneemann und ein schwarzer Schornsteinfeger.

Im Laufe des Abends reichten wir Getränke, Rauchwerk und bewusstseinserweiternde Lachslasagne. Irgendwann ging es dann los: Die Frauen begannen, die Schokoladennikoläuse zu entkleiden. Dieser Akt hatte nichts Sexuelles, denn bekanntlich sind Schoko-Nikoläuse zwar eindeutig männlich, haben aber kein Geschlecht, das man spielerisch entblößen könnte. Übrigens auch keinen Hintern, den Frauen anerkennend „Schokoladenseite“ nennen würden. Nicht um Nacktheit, sondern um die Kleidung ging es den angeheiterten Besucherinnen. Das sorgsam abgelöste Stanniolpapier strichen sie glatt, wie kleine Mädchen Glanzpapierbildchen für ihr Poesiealbum.

Am Rande wurde ein moderner Mythos widerlegt: Es ist wirklich nicht so, dass die Lebensmittelindustrie alte, nicht verkaufte Nikoläuse umverpackt und als Schoko-Osterhasen noch einmal auf den Markt wirft. Das geht nicht – wie neunzehn nackte Schoko-Nikoläuse bewiesen, die alle nicht nach Hase aussahen.

Ein nackter Niko erinnerte vielmehr an John F. Kennedy. Wenigstens meinen Freund Knut. Mit Nikoläusen stellte er die berühmte Mordszene aus Dallas im Jahre 1963 nach. Es ging darum, Oliver Stones Verschwörungstheorie zu widerlegen, was aber niemanden mehr interessierte. Denn ein neues Spiel war gefunden: heiteres Politische-Morde-Raten.

Am einfachsten sind die Klassiker. Ein Schoko-Nikolaus bekommt von hinten den Schädel mit einem Eispickel eingeschlagen? Klar: Trotzki. Ein Schoko-Niko wird mit vierzig Bleistiftminen gespickt und bricht auf von Bauklötzen dargestellten Marmorstufen zusammen? Cäsar. Ein Schoko-Niko köpft liegende Schoko-Nikos mit einem Sommeliermesser, bevor er selbst enthauptet wird? Robespierre. Unsere Freundin Lara spießt einen Schoko-Nikolaus mit einem Stift auf und lässt ihn langsam über einer brennenden Kerze schmelzen. Na? Giordano Bruno. Ich bin auch nicht sofort drauf gekommen.

Die szenische Darstellung politischer Morde mit Schokoladennikoläusen wird interessanterweise schwieriger, je näher die Taten an der Gegenwart liegen. Versuchen Sie einmal zu Hause aus Stücken zerbrochener Nikoläuse den von der RAF gesprengten Wagen Alfred Herrhausens zu basteln. Das ist schwierig. Dafür sind die zeitnahen politischen Morde oft so speziell, dass die jeweilige Auflösung durch die Mitspieler leicht zu erraten ist. Beispiel: Ein Schoko-Nikolaus wird waagerecht durch die Luft bewegt und mit dem Kopf gegen einen Boxenturm geknallt. Lösung: Mohammed Atta.

Das Spiel hat mit der Moderne die totale Entgrenzung der Gewaltfantasien gemein: Nach den Morden kommt das Massaker. Als sich auf dem Tisch nur noch Körperteile aus Kalorien türmen und Splitter von Süßigkeit, da stapelt jemand wie zwanghaft die Schoko-Schädel der bereits Ermordeten vor der Auflaufform, guckt in die Runde und sagt traurig: „Kambodscha“. Selbst Lara, die gerade noch Giordano Bruno röstete, ist jetzt ein wenig blass um die Nase und mag nicht mehr weiterspielen. Egal, es ist sowieso kein Nikolaus mehr übrig.

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