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Hausbesuch Udo Stegemann lebt in einer WG für Korsakow-Demente in Berlin. Das Zeitgefühl der Bewohner ist dahin, so wie ihr Kurzzeitgedächtnis. Aber es gibt gute Tage. Und einmal die Stunde eine ZigaretteGegenwart nur ab und zu

Von Ann Esswein (Text) und Amélie Losier (Fotos)

Zu Besuch bei Udo Stegemann (und seinem Rauchkumpel Achim Beyer) in Berlins erster Senioren-WG

Draußen: Die Morgensonne scheint zaghaft durch den Innenhof, mittendrin ein Kinderspielplatz, das Quietschen der Ringbahn im Hintergrund. Auf dem Klingelschild des Wohnblocks steht „Wohngemeinschaft“, danach sechs Namen. Es ist ein eisig kalter Morgen im zu Ende gehenden Jahr.

Drinnen: T-Shirt-warm, Laminatböden, sechs etwa gleich große Zimmer; geradeaus: die Einbauküche, daneben ein Gemeinschaftsraum mit bahnhofsgroßer Wanduhr. Um den Tisch sitzen die Bewohner, frühstücken um ein „Mensch ärgere Dich nicht“-Brett. Klassik aus dem Radio, ansonsten Stille.

Die WG: Es gibt sie seit 1996, heute hat sie sechs Bewohner zwischen 62 und 79 Jahren. Dann gibt es da noch zwei Schildkröten (Alter unbekannt), zwei Betreuerinnen und den Pflegedienstleiter (etwas jünger) und den Wellensittich „Hansi“ (er ist der Jüngste.) Bald soll es einen neue_n Mitbewohner_in geben. Über ein Webportal für Wohngemeinschaften ab 50 sucht die Alters-WG nach Neuzuwachs, „in der Regel ist ein Verbleib bis zum Tod in der Wohngemeinschaft gesichert“ heißt es in der Broschüre.

Das Vergessen: Alle Bewohner dieser WG haben eine Korsakow-Demenz. Sie haben getrunken, bis sich das Gehirn nicht mehr erholen konnte. Seit dem schwächelt das Kurzzeitgedächtnis – und die Fähigkeit, den Haushalt selbst zu führen. Die Persönlichkeit Korsakow-Dementer verändert sich. Manche sind aggressiv, andere fokussieren sich nur noch auf Einzelheiten. Die Antwort der betreuten Senioren-WG auf das Vergessen nennt sich „Validation“. Die Bewohner dürfen in ihrer Welt bleiben, egal ob sie gerade in ihrer Jugend, Kindheit oder in der DDR festsitzen. „Es ist richtig, wie du es sagst“ ist die häufige Antwort des Personals, wenn die Bewohner mal wieder „konfabulieren“, also die Erinnerungslücken mit Fantasie füllen.

Gegenwart: Im Hintergrund erinnert ein Holztäfelchen, dass es Winter ist. Tag: 12, Monat: Dezember, Jahr: 2016. Keinem der Bewohner sei das heutige Datum bewusst, ist sich der Pflegedienstleiter sicher. Obwohl sie alle um den weihnachtlich gedeckten Tisch sitzen, leben sie gerade gefühlt in verschiedenen Epochen ihrer persönlichen Historie. Die Gegenwart ist nur etwas, das ab und zu durchscheint.

Udo Stegemann: „Wie lange bin ich schon hier?“, schreit Udo Stegemann aus seinem Zimmer und die Betreuerin antwortet: „Drei Jahre“. „So lange schon“, wiederholt er: „ich bin aber glücklich hier.“ Udo, wie ihn die anderen Bewohner nennen, grauer Schnauzer und rasselndes Lachen, sitzt auf seiner Couch, seinem Lieblingsstück – neben dem Fernseher. In seinem selbst eingerichteten Zimmer stehen vier Uhren, zwei davon sind stehen geblieben. Auf dem Tisch zwei Tassen Kaffee, kalt, daneben: ein Kalender, der das Jahr 2017 einleitet. Mit Zahlen könne er nichts mehr anfangen, mit Erinnerungen schon. Die Bilder seiner Berliner Kindheit: die Schaukel im Garten, das Haus, das noch größer wirkt, als der Vater nicht mehr nach Hause kam, das Spielen mit den Geschwistern. Mit 16 wird Stegemann Maurer, arbeitet später als Dreher in Schichtarbeit. Am liebsten hält er sich aber um den Alexanderplatz auf „wegen der guten Gesellschaft“. Danach kommen Lücken, er weiß nicht, was er in den letzten Jahren getan hat. Heute ist er 63. Seine eigene Altersangabe: 26.

Die Familie: Drei Pokale thronen in seiner Vitrine „von meiner Mutter“, sagt Stegemann, das „ist der Ehrenpreis aus der Uckermark-Schau, den hat sie mit dem Kaninchenverein gewonnen“ sagt er, stolz. Jetzt würden es ihre Beine nicht mehr machen, nur selten käme sie ihn in der Alters-WG besuchen. Wie alt sie ist? „Vergessen“, die Antwort, schulterzuckend. Gelb-gerahmt hängen Bilder vor seiner Zimmertüre wie materialistische Gedächtnisstützen. „Ich habe keine Kinder“ sagt er, doch angesichts der Bilder fällt es ihm wieder ein. Die Tochter, spitzbübisch-kurzhaarig, der Sohn, auf einem Rennrad neben dem Weihnachtsbaum („Sie haben ein anderes Leben“). Heute kümmere er sich vor allem um „Hansi“, einen Wellensittich. „Jaja, Papi ist ja da“, sagt er jedes Mal, wenn Hansi zwitschert.

Zeit: Die Raucherpause scheint wie der selten gleiche Nenner in den verschiedenen Zeitdimensionen der WG. Es ist das einzige, was die Bewohner nicht vergessen: zu jeder vollen Stunde gibt es exakt eine Zigarette, streng rationiert. Dann treffen sich die Bewohner im Wintergarten. Jeder hat seinen festen Sitzplatz. „Meistens sprechen wir gar nicht, wir rauchen einfach nur“, sagt Udo Stegemann. Besonders gut rauchen und schweigen könne er mit Achim.

Achim Beyer: „Ist mein Lieblingsplatz hier“, sagt Achim Beyer, graue Augen, grauer Rolli, graue Haare, und zieht an seiner filterlosen Zigarette. Was die beiden sonst noch verbindet: sie beiden sind die Zweitjüngsten von vier, wuchsen in Berlin und im Osten auf. Als Flüchtling kam er noch vor der Wende in den Westen „Wir waren damals so viele Flüchtlinge, wir wurden als Belästigung betrachtet, das war unangenehm“, sagt er, ständig die Hände reibend, als ob ihm kalt wäre. Udo Stegemann hört zu. An den Mauer­fall kann er sich nicht mehr erinnern. Mit dem letzten Zug der Zigarette sprechen sie dann über die Seen, in denen sie als Kinder schwimmen waren.

Alltag: Es ist die Vergangenheit, die den Alltag der Bewohner bestimmt. Ergänzend diktiert das Betreuungspersonal einen Tagesablauf: Jeder darf ausschlafen, dann gibt es Frühstück. Manche spielen Brettspiele, andere schauen vor sich hin. Der Fernseher säuselt im Hintergrund, die Betreuerinnen kochen in der offenen Küche. Einmal die Woche wird über den Speiseplan diskutiert. Heute gibt es Weißkohl „ganz ordentlich“, sagt Achim Beyer. Er hilft oft mit beim Kochen. Ob sie einen Apfel schälen könnte, fragt die Betreuerin eine ältere Frau im Rollstuhl. Mit dem Messer in der Hand beugt sich die Frau über den Apfel, bleibt dann rührungslos, zehn Minuten lang. Dann zucken die Finger, resigniert lässt sie den Apfel fallen. „Wir haben alle unsere schlechten Tage“, sagt die Betreuerin als sie ihr Apfel und Teller wieder abnimmt.

Glück: „Die guten Tage, das sind die, wenn wir gemeinsam Ausflüge machen“, sagt Achim Beyer; „wenn man mit anderen Leuten ist“, ergänzt Udo Stegemann. Heute geht es auf dem Weihnachtsmarkt, es sei „einer schöner Tag“, erkennt er beim Blick nach draußen, „die Sonne scheint“. Dann ist es wieder fünf vor 12, Zeit für die stündliche Zigarette. Mit „Eins, zwei, drei –hopp“ schwingt sich Udo Stegemann von seinem Bett und läuft mit dem Rollator Richtung Wintergarten. Seine Mitbewohner warten schon auf ihn.

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