Hausbesetzung in Berlin-Kreuzberg: Besetzer dürfen vorerst bleiben
Aktivisten besetzen leerstehende Wohnungen, geräumt wird nicht. Der Eigentümer sagt Verhandlungen für die nächste Woche zu.
Am Samstagnachmittag gegen 16 Uhr lassen die BesetzerInnen an der zerbröckelnden Fassade der Großbeerenstraße ein Transparent herunter: „Spekulationen stoppen – Leerstand besetzen“ steht darauf. Mindestens in zwei Wohnungen, die seit vielen Jahren leer stehen, sind sie zuvor eingedrungen. Schnell ist die Polizei vor Ort, kann aber den Eigentümer, die katholische Aachener Siedlungs- und Wohnungsbaugesellschaft mbH, über Stunden nicht erreichen. Da so der für eine Räumung benötigte Strafantrag nicht gestellt wird, halten sich die Beamten zurück.
Vor dem Haus kommen SympathisantInnen und AnwohnerInnen zusammen, im Laufe des Abends werden es immer mehr. Es gibt Musik, die Stimmung ist gelassen. Viele befürworten die Besetzung, nicht zuletzt, weil sie selbst von den explodierenden Mieten im Kiez betroffen sind: „Solange es keine Gewalt gegen Menschen gibt, hege ich grundsätzlich Sympathie für solche Aktionen“, sagt Nathanael Siring, der seit drei Jahren in Kreuzberg wohnt, „es ist völlig unmöglich, hier noch etwas Bezahlbares zu finden.“
Die BesetzerInnen, die sich als Hausprojektgruppe bezeichnen, sind nach eigenen Angaben alteingesessen im Kiez und teilweise selbst von Verdrängung bedroht. Sie wollen nicht nur einen Ort für ihr Hausprojekt finden, an dem sie auch im Alter zusammenleben können, sondern auch gegen steigende Mieten und spekulativen Leerstand protestieren. Die meisten Wohnungen des Gebäudes sind schon seit zehn Jahren ungenutzt, in einem Kiez, dessen Neuvermietungspreise zu den teuersten in Berlin zählen. „Häuser zu besetzen ist eines der letzten Mittel, überhaupt noch bezahlbaren Wohnraum zu schaffen“, so eine Aktivistin während der Kundgebung.
Rot und Grün zeigen sich solidarisch
Vor dem Haus sagt die Linke-Abgeordnete Gabi Gottwald: „Besetzungen sind ein legitimes Mittel, um auf Leerstand aufmerksam zu machen.“ Auch die Grünen treten innerhalb des Senats für einen anderen Umgang mit Besetzungen ein. Die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram (Grüne) plädiert vor Ort für eine Entkriminalisierung von zivilem Ungehorsam und eine Abkehr von der Berliner Linie, jener Polizeimaßgabe, die besagt, dass Besetzungen innerhalb von 24 Stunden zu räumen sind.
Der "Herbst der Besetzungen" ist Thema der aktuellen Folge des taz Podcasts "Lokalrunde - das Stadtgespräch aus Hamburg und Berlin". Hörbar auf Soundcloud, spotify, itunes und Deezer.
Als sich der Eigentümer schließlich telefonisch meldet und sofort räumen lassen will, bereiten sich die PolizistInnen und UnterstützerInnen schon vor. Doch dann gelingt es Katrin Schmidberger, Sprecherin für Wohnen und Mieten der Grünen, einen Kompromiss auszuhandeln. Ein Zwischennutzungsvertrag erlaubt es fünf BesetzerInnen zunächst, in einer Wohnung zu bleiben; am Montag will der Eigentümer für Verhandlungen nach Berlin kommen. Sichtbar erleichtert resümiert Schmidberger: „Es war ein entscheidender Schritt weg von der Berliner Linie“. Gegen 20 Uhr war der Polizeieinsatz beendet.
Weniger reibungslos verläuft die Aktion gegen Google am Freitag: Nach der Besetzung des von dem Unternehmen geplanten Start-up-Zentrums ermittelt die Polizei gegen mindestens vier Personen, die vorläufig festgenommen wurden wegen Haus- und Landfriedensbruch sowie Körperverletzung.
Etwa 30 AktivistInnen waren zuvor in das Gebäude eingedrungen, weitere 40 hatten eine Blockade vor dem Eingang gebildet. Ihre Forderungen: Google solle aus Kreuzberg verschwinden, eine Nachbarschaftsversammlung am selben Tag über die Nachnutzung des Gebäudes entscheiden. Doch so weit kommt es nicht. Als die Polizei überraschend gegen die Blockade vorgeht, stürmen die BesetzerInnen aus dem Haus. Ein paar werden aufgehalten, die Mehrheit kann sich ohne Kontrolle entfernen. Erst Minuten später rennen Polizisten durch den Kiez, um noch Beteiligte festzunehmen. In der Reichenberger Straße fassen Zivilbeamte einen jungen Mann und fesseln ihn. Ein Beamter habe ihn getreten, berichten der Betroffene und ein Begleiter der taz.
Beide Aktionen dockten an die #besetzen-Kampagne an, in deren Rahmen zu Pfingsten ein Haus in Neukölln und ein Ladenlokal in Kreuzberg besetzt wurden. Der Senat diskutiert seitdem über die Berliner Linie; Grüne und Linke wollen diese überarbeiten und nur noch räumen lassen, wenn ein Eigentümer nachweisen kann, dass er Leerstand bald beseitigt. Im Aufruf zum Herbst der Besetzungen vom Monatsanfang heißt es:„Wir werden besetzen, bis wir es nicht mehr müssen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag