: „Hauptsache, die alten Bonzen werden abgelöst“
■ Lauwarmer Wahlkampf kontra knallheißem Wahlsonntag / Dennoch ließen sich die OstberlinerInnen gestern den Gang zur Urne nicht nehmen / Angst vor unzureichenden Sozialleistungen überschatten den Ostberliner Traum von „Groß-Berlin“
Ost-Berlin. „Komm, Vadder, laß uns gehn, die Sonne prallt!“ Wer an diesem Sonntag in nachmittäglicher Hitze am Spreeufer entlangflaniert, hat den Gang zur Wahlurne meist schon hinter sich gebracht. Um sieben Uhr habe sie ihren Stimmzettel bereits abgegeben, erzählt eine dralle Ostberlinerin, „einen so schönen Tag kann man sich nicht entgehen lassen!“
Der müde geführte Kommunalwahlkampf kann die Gemüter der OstberlinerInnen auch am Wahlsonntag nicht sonderlich erhitzen. Das erledigt statt dessen die unermüdlich vom Himmel knallende Sonne: Über dem „Zenner“, einem Ausflugslokal in der Nähe des S-Bahnhofs Treptow, liegt ein Hauch von Holzkohleduft, statt an der Wahlkabine stehen die Menschen am Würstchenstand Schlange. „Das ist die Berliner Luft!“, versichert eine Sechs-Mann-Kapelle am stark besuchten Müggelsee, wo bereits die ersten Biere zur innerlichen Abkühlung kreisen. Ein Tag wie jeder andere? Nicht ganz - denn wählen waren sie alle. „Klar geb‘ ich meine Stimme ab“, das war für den Vater zweier Töchter nie eine Frage, „weil sich doch sonst überhaupt nichts bewegt!“ Doch wenn es darum geht, wem das begehrte Kreuz nun eigentlich am besten ansteht, klaffen die Meinungen weit auseinander: „Auf keinen Fall der PDS“, erklärt ein rüstiger Mittfuffziger, „und der SPD traue ich auch nicht!“ Eine junge Mutter dagegen fürchtet die gleiche „Schokoladenpuddingpolitik“ wie in der Volkskammer: „Wir brauchen eine starke Partei, ich habe dasselbe gewählt wie beim letzten Mal und hoffe, daß es diesmal wirksamer ist!“ Doch welche Hoffnungen sie konkret mit dem Wahlsieg der einen oder anderen Partei verbinden, können die BerlinerInnen nur undeutlich sagen. „Ich hoffe, daß nicht alles über Bord geworfen wird, was hier entstanden ist“, erklärt ein 35jähriger Kraftfahrer, „und daß die künftigen Abgeordneten bei ihren Entscheidungen Rückgrat beweisen“. „Hauptsache, die alten Bonzen werden abgelöst“, hofft ein Student. Seine Freundin plagen zusätzlich ganz konkrete Sorgen: „Regelrechte Angst habe ich davor, wenn die Gehälter nicht erhöht werden, wie sollen wir dann noch die Miete zahlen?“ Arbeitslosigkeit und unbezahlbare, horrende Mieten
-das sind die Schreckgespenster, die auch diesen sonnigen Maientag immer wieder überschatten, egal welche Partei die jeweils Befragten favorisieren. „Es sagt doch keiner so richtig, wo es eigentlich langgeht“, ärgert sich eine Ethnologiestudentin. „Wer sagt mir, daß ich den bereits zugesagten Arbeitsplatz tatsächlich bekomme?“ Nach der Kommunalwahl hofft sie, daß dann vielleicht mal jemand zuständig ist, „den ich auch persönlich ansprechen und befragen kann“.
Hinter solch persönlichen Ängsten bleibt die Vision eines zukünftigen „Groß-Berlin“, womöglich unter rot-grüner Regierung, weit zurück. Im Vordergrund stehen die Hoffnungen auf verbesserte Sozialleistungen, höhere Renten und die Beibehaltung von bewährten Einrichtungen wie den Kindergärten. Doch die Unsicherheit ist groß: Welche Partei kann diese Hoffnungen erfüllen? „Schuld an dieser Unsicherheit ist auf jeden Fall dieser kümmerliche Wahlkampf“, schimpft eine Verkäuferin, „da wollte sich doch keiner richtig äußern!“ „Ich bin wählen gegangen, weil man ja Meinung beziehen muß“, meint ihr Begleiter resigniert, „aber im Grunde ist doch alles eins“.
Zwei junge Vietnamesinnen, die eisessend vorbeischlendern, kümmern diese Probleme nicht: Sie haben von der Kommunalwahl überhaupt nicht gewußt. Und dem 25jährigen Studenten, der genüßlich seine Wolldecke am Ufer ausbreitet, ist die zweite Wahl innerhalb von sieben Wochen sowieso viel zu viel: „Alles wirbt da rum und schmeißt Zettel in die Menge, wer, bitte schön, macht das hinterher wieder sauber?“
maz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen