: Hanauer Bombe schockt Bonn
■ Der NUKEM-Skandal scheucht die Bonner Politiker auf Täuschte Töpfer den Bundestag? / Bombenverdacht bestürzt Regierungs-Mannen
Gestern morgen im Bundestag: Die Regierungsbank ist gut besetzt – ausnahmsweise widmen sich Minister und Kanzler nicht dem sonst üblichen Aktenabzeichnen. Im Raum steht ein Verdacht, der „ungeheuerlich“ (Wallmann) ist: Die Verletzung des Atomwaffensperrvertrags. Als die Grünen vor Monaten die Aufnahme des Atomverzichts ins Grundgesetz forderten, fanden die Regierungsparteien es noch schamlos, ein Thema wie „Proliferation“ überhaupt aufzuwerfen. Jetzt ist das Fremdwort in aller Munde.
Umweltminister Töpfer droht mit dem endgültigen Entzug der Betriebsgenehmigung für NUKEM und spricht von einer notwendigen „Entflechtung“ der Hanauer Nuklearbetriebe. Für die FDP fordert Baum: „Der ganze Bereich muß strukturell neu geordnet werden. Auf der bisherigen Basis ist da nichts mehr zu machen.“
Das Lob von CDU und FDP für Töpfers Stillegungs-Entscheidung kommentiert Otto Schily sarkastisch: „Diese Entscheidung war nach dem Atomgesetz zwingend geboten. Aber es ist anscheinend soweit gekommen, daß man der Regierung dankbar sein muß, wenn sie sich an die Gesetze hält.“ Schily: „Wo bleibt die bundesweite Fahndung, warum wird nicht wegen einer kriminellen Vereinigung ermittelt?“ Die SPD, die es bisher mit dem Untersuchungsausschuß nicht eilig hatte, fordert nun einen Krisenstab: Jede ohne Aufklärung verstreichende Stunde „schadet unserem Volk“, ruft Volker Hauff pathetisch aus.
Seit Donnerstag mittag jagen sich in den Ministerien und Abgeordnetenbüros die Besprechungen und Krisensitzungen. Die Hektik, mit der der sonst schwerfällige Bonner Apparat reagiert, steht in auffälligem Mißverhältnis zu dem, was noch gestern nachmittag als offizieller Informationsstand verbreitet wird: „Die Staatsanwaltschaft hat bisher keine konkreten Hinweise auf den Verdacht der Proliferation“, versichert ein übernächtigter Töpfer vor der Bonner Presse.
Zwischen der von den Grünen beantragten und überraschend schnell einberufenen Sondersitzung des Umweltausschusses am Donnerstag abend und dem gestrigen Nachmittag verdichtet sich zumindest eines: Die Hinweise, die zur Schließung von NUKEM führten und die den Verdacht der Proliferation aufkommen ließen, lagen in Hessen bereits vor, als Töpfer am Mittwoch vor dem Bundestag seine Regierungserklärung abgab.
Vor die Wahl gestellt, entweder das Parlament falsch informiert zu haben, wie es ihm die SPD vorwirft, oder als oberster Aufseher der Atomwirtschaft nicht auf der Höhe des Skandals gewesen zu sein, entscheidet er sich konse quent für das Letztere: „Ich habe das, was mir bekannt war, in voller Offenheit dem Bundestag mitgeteilt.“ Wallmann hält dem Parteifreund die Stange: „Töpfer konnte nicht informiert sein, weil Weimar nicht informiert war.“
Nachdem nun die Atomwirtschaft in eine „Vertrauenskrise neuer Dimensionen“ gekommen ist, klammert sich Töpfer weiterhin an seinen meistgebrauchten Ausdruck der letzten Wochen: „Es muß tief geschnitten“ werden, aber „unser Ziel ist die Gesundung, nicht der Tod des Patienten.“ Die Prophezeiung Otto Schilys, der vor der Sitzung des Umweltausschusses verkündete, „dieser Tag ist der Anfang vom Ende der Atomindustrie“, will Töpfer nicht in sein gedankliches Gesichtsfeld lassen.
Doch die Vorstellung, daß Transnuklear waffenfähiges Material an Libyen und Pakistan geliefert haben könnte, läßt zumindest dem FDP-Politiker Baum die Erkenntnis dämmern, daß die Selbstmorde der zwei Atom-Manager „offensichtlich einen alarmierenderen Hintergrund haben als bisher angenommen.“
Glaubt man Wallmann, dann wurde er erst auf der Fahrt nach Bonn von seinem Justizminister darüber in Kenntnis gesetzt, daß der Vorwurf der Proliferation vorgestern von einem weiteren Informanten direkt der Staatsanwaltschaft mitgeteilt wurde, unabhängig von den belastenden Informationen, die bereits Weimar erhalten hatte.
Die Verwirrung der Begriffe in der Bonner Diskussion ist total und zum Teil wohl auch gewollt: Die Transportgenehmigung für Transnuklear nach Pakistan, die am Donnerstag noch für „Atomrückstande“ galt, wurde nun laut Töpfer für ein „medizinisches Großgerät“ gegeben.
In all dem Wirrwarr will man jedoch wissen, daß das über Lübeck eventuell verschobene Spaltmaterial nicht aus deutschen Kernkraftwerken stammen soll. Und die Euratom halte eine derartige Verletzung des Nichtverbreitungsvertrags auch gar nicht für möglich, versucht Töpfer zu beruhigen. Charlotte Wiedemann
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