: Hamburger brechen
Geschichten über den Alltag von Kindern und Teenagern in Thailand: Rattawut Lapcharoensaps Erzählsammlung „Sightseeing“
von SUSANNE MESSMER
Seit Anfang der Neunzigerjahre gilt nicht en vogue, wer nicht schon einmal in Thailand war – zum lässigen Ton gehört es, sich auf entsprechenden Partys über die Vorzüge verschiedener Bars und Hostels in Bangkok zu streiten, die authentische thailändische Küche zu loben und den weißen Strand auf diversen Inseln. Trotzdem braucht man nur bei Amazon nachzusehen, um sich in seinem Ressentiment gegen den Rucksacktourismus und seine übel riechende Autoerotik vollkommen bestätigt zu fühlen: Rucksacktouristen zeigen kein literarisches Interesse an dem Land, das sie seit 15 Jahren intensiv bereisen. Und auf diese mangelnde Nachfrage reagiert die deutsche Verlagslandschaft mit null Angebot.
Geradezu kümmerlich ist es, was es da gibt: eine Anthologie mit thailändischen Liebesgeschichten bei Manesse. Außerdem, soeben erschienen: eine Anthologie thailändischer Erzählungen im kleinen Horlemann Verlag – ein Buch, das leider schon wegen seiner haushälterischen Aufmachung ziemlich sicher untergehen wird. Das dritte lieferbare und neue Buch sind Rattawut Lapcharoensaps Erzählungen „Sightseeing“ – ein Lob dem Verlag für diesen Vorstoß, ein Lob auch fürs schillernde Cover. Bei so viel Pioniergeist darf man getrost vernachlässigen, dass der Verlag sich gar nicht so weit aus dem Fenster lehnen musste. Das Buch ist auf Englisch geschrieben, musste also nicht aus dem Thailändischen übertragen werden. Es ist zudem bereits in Amerika und in England gut angekommen. Rattawut Lapcharoensap, der seit seiner Kindheit in den Achtzigerjahren in den USA und in Thailand lebt, wurde dort zu Recht als einer der ersten Vertreter der dritten Generation postkolonialer Autoren gefeiert.
Die Erzähler von Lapcharoensaps Geschichten sind bis auf eine Ausnahme Kinder und Teenager in Thailand. Sie sehen fern, vollführen Kunststückchen mit ihren Rädern und schnüffeln hin und wieder Leim. Sie tun alles, was alle Kinder und Teenager auf der ganzen Welt tun – nur sind nicht alle Kinder und Teenager auf der Welt mit einer Flut von Touristen konfrontiert. So kommt es, dass Rattawut Lapcharoensaps leichtfüßig geschriebene Geschichten universell sind, gleichzeitig aber speziell. Sie gehen vom Normalen aus – von Problemen wie alltäglicher Langeweile, Rassismus und Klassenhass, die es im Land des ewigen Lächelns genauso gibt wie in jedem anderen Land. Gleichzeitig bauen sie ganz en passant kleine, amüsante kulturelle Rachefeldzüge ein und jonglieren elegant mit der Frage, die diese jungen Leute am meisten beschäftigt: Was in meinem Leben ist noch das Eigene und was schon das Andere, und will das überhaupt noch jemand wissen?
Rattawut Lapcharoensap schafft es, dass es seine Leser unbedingt wissen wollen. Da ist zum Beispiel der Sohn einer Motelbesitzerin und eines amerikanischen Sergeants, der sich längst aus dem Staub gemacht hat. Der Junge hält sich ein Schwein namens Clint Eastwood und verliebt sich immer wieder in Amerikanerinnen in knappen Budweiser-Bikinis. Eines Tages bietet der Junge seinem Onkel an, die Rechtschreibung auf dem Werbeplakat für seine Elefantenvermietung zu korrigieren. Darauf entgegnet der Onkel, dass er das Schild mit Absicht falsch geschrieben habe. Ausländer, die so genannten Farangs, fänden das charmant. In einer anderen Geschichte lädt ein großer Bruder seinen kleinen Bruder zum Geburtstag zu McDonald’s ein. Der kleine Bruder ist glücklich, bis er zum ersten Mal in seinem Leben in einen Hamburger beißt und sich „quer über das glänzende amerikanische Linoleum“ übergibt.
Doch sind es nicht nur diese kulturellen Zusammenstöße, die die Geschichten in „Sightseeing“ so unterhaltsam und erhellend machen, es ist auch die erwähnte Normalität. In der spannendsten und längsten Geschichte mit dem Titel „Hahnenkampf“ ist es sogar ausschließlich diese Normalität. Ladda ist die einzige Tochter einer Mutter, die davon lebt, BHs zu nähen, und eines Vaters, der es liebt, Hähne in den Kampf ziehen zu lassen. Mit diesem Hobby verhilft er seiner Familie sogar zu bescheidenem Wohlstand. Doch eines Tages taucht Little Jui auf und wettet gegen die Hähne des Vaters. Little Jui ist der Sohn von Big Jui, und Big Jui war es, findet Ladda heraus, der sich vor Jahren an der geistig behinderten Schwester des Vaters verging und sie damit in den Untergang riss. Als sie ihren Vater auf diese Geschichte anspricht, leugnet er die Existenz seiner Schwester. Es ist, als würde damit auch sein eigener Stern untergehen. Fortan verliert er bei jedem Kampf mehr Hähne. Die ganz Familie kommt nur knapp und ganz und gar nicht unbeschadet davon.
„Hahnenkampf“ ist eine Geschichte über die Demütigungen der Armut, über die hauchdünne Schutzschicht, die so etwas wie „soziale Sicherheit“ überhaupt haben kann. Sie ist die stärkste und die bedrohlichste Geschichte in „Sightseeing“ – und sie lässt darauf hoffen, dass es von Rattawut Lapcharoensap bald einen Roman geben wird. Sie lässt außerdem hoffen, dass seine Bücher nicht nur Käufer unter Rucksacktouristen finden werden. Denn die sehen sich sicher ungern damit konfrontiert, dass es, abgesehen von ihnen selbst, in Thailand ganz ähnliche Probleme gibt wie zu Hause.
Rattawut Lapcharoensap: „Sightseeing“. Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 232 Seiten, 8,95 Euro