: Haarscharf am Weltuntergang vorbei
Der Ken-Loach-Schauspieler Peter Mullan schickt in seinem Debütfilm „Orphans“ vier Hinterbliebene durch eine unwirtliche Glasgower Nacht
„Glasgow ist eine Stadt, in der Läden ohne Geld mit Waffen ohne Munition überfallen werden“, charakterisiert eine der Figuren aus „Orphans“ die schottische Nebelstadt. Tatsächlich dürfte das Fremdenverkehrsamt wenig erfreut sein über das im Film entworfene Bild. Wir sehen ein paar hässliche Häuserfronten und Straßenzüge, einen Friedhof, den verkommenen Hafen, Pubs mit faschistoiden Wirten, verbitterte Passanten, denen jedes Stichwort willkommen ist, um übereinander herzufallen. Überhaupt scheinen Häme und Aggression den Alltag zu bestimmen. Und natürlich regnet es ständig.
In dieser Metropole der Tristesse treffen die Geschwister Michael, Thomas, John und Sheila nach Jahren der Trennung aufeinander; Anlass ist der Tod ihrer Mutter. Beim anschließenden Kneipenbesuch nimmt das Unheil seinen Lauf: Michael zettelt einen Streit an und wird verletzt, John will ihn rächen, die querschnittsgelähmte Sheila irrt vereinsamt mit ihrem Rollstuhl durch die Nacht, während der frömmelnde Thomas, eigentlich Verursacher der Verstrickungen, durch keine noch so absurde Wendung des Geschehens von der Totenwache abzuhalten ist.
Peter Mullan steht in der Tradition des britischen Sozialkinos eines Alan Clarke, Mike Leigh oder Ken Loach. Für Letzteren stand er mehrfach als Darsteller vor der Kamera, durch die Titelrolle von „My Name is Joe“ (1998) wurde er auch international berühmt. Als Regisseur ist er ein Glücksfall, kein Epigone – er reichert die Filmsprache seiner Vorläufer mit einer gehörigen Portion Fantastik an, wartet außerdem mit besonders drastischen Varianten schwarzen Humors auf. Der durch einen Messerstich verletzte Michael kommt auf die abseitige Idee, die Wunde als Arbeitsunfall auszugeben, um mit der Entschädigung ordentlich Geld zu machen, und schleppt sich blutend bis zum Hafen. Sein jüngerer Bruder John zeigt sich hingegen wild entschlossen, den Messerstecher umzubringen, und besorgt sich mit Hilfe eines windigen Pizza-Kuriers eine Schusswaffe. Sheila macht sich allein auf den Heimweg, bleibt aber mit dem Rollstuhl in einer Nebenstraße stecken und findet Unterkunft bei einer wildfremden Familie.
Je weiter die Nacht fortschreitet, umso aberwitziger gestalten sich die Ereignisse. Ein Unwetter hebt an, der Strom fällt aus, Michael treibt hinaus aufs Meer, und das Dach der Kirche wird abgetragen. Aber der Weltuntergang findet dann doch nicht statt. Am Morgen des nächsten Tages treffen die Geschwister wieder aufeinander – es scheint, als sei ihre Kindheit erst mit dieser ereignisreichen Nacht abgeschlossen worden.
„Orphans“ ist ganz nebenbei auch eine subtile Studie über die Abwesenheit von Vätern. Es gibt kein filmisches Erinnerungsbild an den Vater der vier Geschwister. Erst ganz zum Schluss lesen wir auf dem Grabstein der Mutter, dass sein Name John Flynn gewesen ist und sein Tod schon viele Jahre zurückliegt. Auch Michael wird als ein Mann gezeichnet, der nicht in der Lage ist, den eigenen Kindern Vater zu sein. Das Versagen der Männer äußert sich als Flucht vor sich selbst, zurück bleiben, sehr konkret, Frauen und Kinder. Wohl nicht zufällig hat Peter Mullan sein Debüt der eigenen Mutter gewidmet.
Glücklicherweise kam der kleine Kairos-Verleih aus Göttingen nicht auf die Idee, den Film mit einer deutschen Synchronisation zu versehen. Gerade der harte schottische Akzent trägt wesentlich zur Authentizität bei. Dadurch wird umso deutlicher, wie weit „Orphans“ von den in synthetischem Labor-Amerikanisch gedrehten Euro-Pudding-Filmen entfernt ist. Statt ästhetischer Einebnung und marktstrategischer Kompatibilität erleben wir hier das Gegenteil: Menschliche Universalität entfaltet sich gerade durch die konsequente Regionalisierung des Stoffes.
CLAUS LÖSER
„Orphans“. Regie: Peter Mullan. Mit Douglas Henshall, Gary Lewis u. a. Großbritannien 1998, 101 Min.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen