: HEUTE KEINE SCHULE
■ „Something Wild“ von Jack Garfein im Eiszeit
Wilde Knospen klingt nach „zweite Kabine links“ und frisch aufplatzenden Mädchenschenkeln, denen subtropische Gerüche entströmen. Das ist nicht das erste Mal, daß ein Filmtitel das Thema verfehlt, aber bezeichnend. Selbst der Originaltitel Something Wild lockte wahrscheinlich einmal Erektionswillige in den ersten Anti -Vergewaltigungsfilm Hollywoods. Aber die Verleihtitel haben dann auch nicht das Wunder bewirken können, das United Artists ihrem Newcomer Jack Garfein zweifellos gewünscht hatten: kommerziellen Erfolg zum Beispiel. Garfein fehlte trotz seiner Lehrzeit bei Elia Kazan das Gespür für die Projektion „Massengeschmack“, und nach „Something Wild“, seinem zweiten und letzten Film, verließ er 1960 enttäuscht Hollywood, um am Theater weiterzuarbeiten.
Garfeins Zeit als Regieassistent Elia Kazans hat in „Something Wild“ trotzdem ihre Spuren hinterlassen. Noch im Gedanken an die fünfziger Jahre, dem Beginn des Oberkörperfreie-Jugend-im-Film-Projekts und der Entdeckung des Minderjährigenpathos verfilmte Garfein die Geschichte eines Runaways. Im Gegensatz zu ihren B-Movie-Altersgenossen ist sie jedoch nicht mehr auf der Suche nach sexuellen Erfahrungen, weil schon die erste jeden Wunsch nach Fortsetzung umgebracht hat. Die gutbehütete Schülerin Mary Anne wird auf dem Nachhauseweg vergewaltigt. Danach bringt jede menschliche Berührung sie fast zum Kotzen.
Sie flieht in ein fahrstuhlgroßes Hotelzimmerchen und existiert nur noch als Antikörper in einer gnädig betätschelnden Umwelt, die Garfein in etlichen Kameraausflügen vor allem als Zuviel (Menschen, Verkehr, Licht) beschreibt. So wie der zeitgenössische Film Explosion des Schweigens ist auch „Something Wild“ ein Großstadtpamphlet; die Metropole verursacht nichts weiter mehr als Klaustrophobie, Brechreiz und Tod. Die Dialoge schrumpfen zusammen, statt dessen übernimmt schrille Musik die Aufgabe der Anklage. Es dauert immerhin mindestens zehn Minuten, bis der erste Satz im Film gesprochen wird („Heute keine Schule, Mary Anne?“), die Vergewaltigung geschieht wortlos, uneingeholt vom Klischee: Hilfe! - Halt's Maul, Kleine! - Nein! Nicht!.
Dreißig Minuten vor Schluß wird die ganze detaillierte Unerträglichkeit dann allerdings in die Mär vom wackeren Ritter, den es noch für jedes traurige Mädchen gegeben hat, abgebogen. Ja, Vertrauen ist doch möglich - vielleicht wächst es nicht gerade als wilde Knopse, aber eine Sumpfblüte ist's bestimmt. Bleibt die Frage, wie man sich nach soviel einmal zum Durchbruch gelangtem Ekel wieder mit seiner verständnislosen Mutter versöhnen kann. Wollen wir die Schuld mal United Artists zuschieben, da der Verdacht künstlerischer Bevormundung so gelegen kommt. Jack Garfein wird derlei Fragen die nächsten Abende im Eiszeit aber auch selbst beantworten können - er reist extra für die seltene Vorführung seiner beiden Filme aus Paris an.
A. Stolt
„Something Wild“ ab morgen bis Montag im Eiszeit, 21.30 Uhr. Am Montag wird in einer einmaligen Vorführung auch Garfeins „The Strange One“ von 1957 zu sehen sein, der das Leben in einer Militärakademie schildert.
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