: Günter Grass hat sich redlich bemüht
■ betr.: „Jenseits der Meinungs freude“ von Kurt Scheel (Intellek tuellendämmerung), taz vom 13.1. 98
Lieber Kurt Scheel, was Grass betrifft, so ist bedauerlich, daß Du ihn mit jemandem vergleichst, der sich wie der aus der Bibel bekannte Pharisäer hinstellt, um zu sagen „Mein Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die anderen!“ Warum, um alles in der Welt, tust Du das?
Ist Dir wirklich nicht bekannt, daß Günter Grass sich nicht für sich selbst verbürgen wollte, als er sich vorstellte, damals älter gewesen zu sein? Wolfgang Schröder, Rastede
Die traurige Metaphysik des Tertium non datur und das beredte Schweigen des Intellektuellen. Wo pragmatische Utopisten und utopistische Pragmatiker das Nichtidentische aushalten und unerhörtes individuelles Leid in Zusammenhang allgemeinen Unglücks bringen, an dessen Aufhebung wenigstens noch ein anderer interessiert ist, zeichnet sich Hoffnung ab. Die Hoffnung selbst aber steht unaussprechlich hinter aller um Wahrheit bemühter Semantik des Sprechens, das unser Handeln organisiert; umgekehrt ist die Lüge ein Ausdruck der Hoffnungslosigkeit.
Die Metaphysiker aller Provenienzen spielen die Hoffnung gegen die Hoffnungslosigkeit aus und schaffen sich gegenseitig ihre Märtyrer. Der Philosoph aber schweigt sprichwörtlich und gerät dadurch in die Nähe des Mystikers, dessen Schau zum Verwechseln ähnlich ist der Affirmation des elenden Status quo. Diese Nachbarschaft muß der Philosoph meiden, will er nicht an dem dünnen Ast des Noch-nicht-Bestimmten sägen, auf den sich seine Freiheit stützt. Die unvermeidbare Vieldeutigkeit seines Schweigens konturiert er allein durch die Tat, leidenschaftlich und risikobereit aber unmessianisch. Jenseits dieser offenbaren Tatsachen steht der Glaube, die Privatsache des Philosophen. So, Herr Scheel, ein mögliches Profil des gesuchten Intellektuellen hätten wir, allein wer füllt es aus. Karl Jaspers ist tot. Günter Grass hat sich redlich bemüht. Roland Odermatt, Köln
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