piwik no script img

Grüner Sommer

■ Mit dem Gipsbein gedacht. Emilian Nicholaes Reflexionen über das Gehen an Krücken und die Kunst der Selbstheilung. Nachdenken über die Demut

Der Sommer ist längst zu Ende, das Herbstlaub hat sich zerstreut, und die Flocken des Winters haben sich in ihrem makellosen Königreich fest eingerichtet.

Sommer, warum erinnere ich mich jetzt an diese Jahreszeit? Ich weiß warum, denn es waren zwei Sommer, die mich gezeichnet haben, in Kindheit und Jugend. Ich war sechzehn Jahre alt, ich war noch ein Kind, ich war hungrig nach Leben. Mehrere Jahre war ich bettlägerig gewesen, aber das war nicht so wichtig, weil ich zu lesen hatte, und die Bücher halfen mir bei der Flucht vor mir selbst. Der Gedanke, daß ich bald wieder ins Krankenhaus mußte, um den Gips loszuwerden, entschädigte mich für die Qualen, die ich seit Jahren litt; noch eine Untersuchung, eine von vielen in den letzten zwei Jahren und eine, wie sich herausstellte, die nicht die letzte sein sollte. Immerhin war ich danach ein paar Tage lang ohne Gips, damit meine Beine ausgelüftet würden; sie gaben mir zwei Krücken und damit die Möglichkeit, in den Krankenhauspark nach draußen zu gehen.

Die Zeit der Gewöhnung an meine neuen Beine dauerte nicht lange.

Ich befreundete mich mit ihnen nach einem eher verzweifelten Tag, an dem ich mehr auf dem guten Bein herumhinkte, als die Krücken zu gebrauchen. Ich hatte immerhin das Glück, daß die Station groß war und viele Betten dastanden, an denen ich mich kurz vorm Hinfallen immer noch festhalten konnte. Und am Ende schaffte ich sogar, mit den Krücken zu gehen.

– Was ist mit dir? Warum gehst du nicht raus? Eine Frage, die mich erzittern ließ.

– Ach, hm... Ich habe Angst, Doktor.

– Du brauchst keine Angst zu haben, schließlich bist du hier im Krankenhaus.

Das war der Wortwechsel mit dem Arzt, der mich noch weitere zweieinhalb Jahre in Gips halten würde, Jahre, in denen er meinem Vater ohne Scham das Geld aus der Tasche zog, Geld, für das er mich zum Krüppel machte. Nie vergaß er meinem Vater zu sagen, daß Zigeuner nämlich viel Geld hätten und außerdem Gold besäßen. Ich humpelte, so schnell ich konnte, nach draußen in den Park.

Stell dir vor, du bist jahrelang ans Bett gefesselt und kannst den Himmel nur von den Armen deiner Eltern aus sehen, die dich zu einem provisorischen Bett unter der Trauerweide tragen. Einer Weide, die du einige Jahre davor noch selbst am Brunnen gepflanzt hast. Das Bild, das du von der Welt hast und vom Leben, ist anders, als wenn du aufrecht gehst.

Stell dir einen Sommermorgen vor, wenn alles grünt, das Gras, die Bäume, und die Blumen in voller Blüte stehen. Die Kastanie mit ihren großen dunklen Blättern, mit den Kerzen voll kleiner weißer Blüten, der Flieder, die kleine Fichte, hinter der sich die Kinder verstecken, Kinder, die voller Leben sind und ihre Kindheit bis zur Neige kosten. Stell dir einen blauen Himmel vor, auf dessen weißen Wolken Engel spazierengehen.

Ich weiß, daß ich das Gefühl kenne und von ihm ergriffen wurde. Es war etwas Undefinierbares, etwas, das meine Lebensgier mit Kraft und Farbe versah. Dieses Begehren nach Leben war wie eine Blume erblüht, wie das göttliche Grün. Ich war überwältigt vom Grün und von den Strahlen der Sonne, die meine Strahlen waren. Ich wollte laufen, nie mehr anhalten, alles in meine Arme nehmen, ich wollte rufen: „Ich lebe, ich lebe!“

Ich sank ins Gras, umarmte es, ich küßte die Erde und dankte Gott für das Geschenk dieses Augenblicks. Ich liebte alles, was ich sah, und fühlte, daß ich wieder ein Mensch wurde, verlor mich in der Freude, das Leben wiedergefunden zu haben. Seele und Phantasie erhoben sich in mir, ich fühlte, daß tausend Sterne um mich waren, und fühlte die Hitze der Sonne, die meinen zerbrechlichen Körper wärmte. Ich brauchte Luft und Freiheit.

Dort war der alte Traum von der Freiheit in mir erwacht, von einer Existenz inmitten der Natur, dem Lied des Windes zu lauschen, Glocke der Zeit, Stimme des Lebens. Ich brauchte die Freiheit, die meine Großeltern einst gehabt hatten.

Ich wollte den Hammer hören, den meine Ahnen so kunstvoll gebrauchten, in meines Vaters Hand, sein Gesicht geschwärzt vom Ruß der Arbeit, ich wollte die Hände küssen, die mich aufgezogen hatten. Ich fühlte, wie in mir die Liebe wuchs und unendlich wurde.

Wie klein ich war angesichts des Lebens. Ich bat um Leben, damit meine Seele erleuchtet würde, die seit Jahren von der Freiheit geträumt hatte. Ich erlebte die Demut des Augenblicks so tief, daß mir die Seele weh tat. Und doch war das Leben in mir stärker als das körperliche Leiden, das mich seit vielen Jahren niederdrückte. In der Bitte um Leben erniedrigte ich mich, und mein Begreifen erhielt eine neue Dimension.

Ich liebte die Demut meines Volkes, eine Demut, die ich so gut verstand, durch die unser Volk Tausende von Jahren überlebt hatte, ohne daß sich einer vor uns hätte demütigen lassen müssen. Und obwohl wir Sklaven waren, hatten wir an unserer Sprache und Kultur festgehalten. Eine Demut, die Leben und Freiheit bedeutete, eine Freiheit, die nur wir verstanden. Es ist seltsam, die Demut zu lieben. Ich liebe sie, weil ich sie verstehe. Es ist nicht die Demut eines Volkes, das auf Knien rutscht und um Gnade bittet, sondern die Intelligenz eines Volkes, das nicht sterben will.

Ein abergläubisches Volk, das auf dem Land anderer gewachsen ist und gelebt hat, das sich demütigen mußte, um akzeptiert zu werden. Demut war seine einzige Chance zum Überleben.

Ich liebte und liebe die Philosophie meines Volkes, die so einfach ist und doch so schwer. Ich liebe das Feuer, das uns zu essen erlaubt, das uns die Wärme gab, das uns mit Rauch schwärzte und uns zerstörte. Ich liebe das Feuer, das in unserer Seele wohnt. Das Feuer, das unsere Liebe gesehen hat, unseren Kampf vom ersten Tag des Lebens an, das Feuer, das unsere verlorene Geschichte kennt. Ich liebe das Leben meiner Ahnen, weil sie verstanden, ihre eigenen Wunden zu heilen. Ich liebte das Leben, seine Entrücktheit.

Mich hat der Frühling immer entzückt. Der Frühling, der mich jeden Tag aus dem Haus lockte, ihn zu grüßen. Ich wartete halbwach auf ihn, wartete auf seine Brisen, die die Erde trockneten, wartete auf das erste Gras, das Zwitschern der Vögel, die ebenso jauchzten wie ich. Frühling war wie eine Geliebte, die mich nie verriet, die immer wieder kam, mich zu sehen. Ich ergab mich ihrer Wärme und ihrer Umarmung ganz und gar. Jeden Frühling wartete ich auf die Störche und die Schlangen. Ich mußte sie sehen, damit mein Aberglaube verschwand. Ich döste Stunden vor mich hin, träumte von wer weiß was. Und dieses Gefühl ist auch heute noch sehr stark in mir.

Aber der Sommer, den ich im Krankenhaus verbrachte, war einzig, denn er zeigte mir das Leben als Schönheit. Es war eines der wenigen Male in meinem Leben, daß ich wirklich leben wollte, es war einzigartig... Es war der grüne Sommer meines Lebens.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen