: Grüne ohne Basishaftung
Auf ihrem Parteitag werden die Grünen den Schwund an Jugend, Mitgliedern und Wählern beklagen. Doch ist dies der falsche Ansatz. Bedrohlich ist die Beziehungslosigkeit zur Vielfalt der Initiativen
von CHRISTIAN SEMLER
Gibt es in Deutschland ein Bedürfnis nach politischer Partizipation über den Wahlakt hinaus? Fassen wir die Frage eng, beziehen wir sie also auf die Mitarbeit in politischen Institutionen und Parteien, so ist die Antwort ein klares Nein. Mitgliederstatistiken und Umfragen lassen daran keinen Zweifel. Die Hierarchie dieser Organisationen wird abgelehnt, weil dort die Distanz zwischen persönlichem Einsatz und dessen Resultaten besonders groß ist, weil für die geleistete Arbeit „nichts rumkommt“, weil dort weder Witz noch Spaß walten und weil selbst in den abgelegensten Ortsvereinen die große Politik in Sprache und Gestus getreulich nachgeahmt wird.
Paradoxerweise werden ausgerechnet die Grünen, die wie keine andere Partei versucht hatten, die auszehrende Parteienroutine zu vermeiden, jetzt zu deren Opfer. Auf ihrem Parteitag am kommenden Wochenende wird allerorten das Klagelied „Jugend, Mitglieder,Wähler, warum habt ihr uns verlassen“ angestimmt werden. Die Frage ist, wie man früher so sagte, falsch gestellt. Viel beunruhigender für die Grünen müsste die Beziehungslosigkeit der Partei zu den Netzen sein, in denen sich politische Partizipation über den Parteienstaat hinaus abspielt.
In der Frühzeit der Bündnisgrünen war die Verbindung zu sozialen Bewegungen noch auf „klassische“ Weise konzipiert worden: als Doppelstrategie des parlamentarischen und außerparlamentarischen Kampfs. Dabei trieb der außerparlamentarische Kampf an, der parlamentarische sicherte ab. Bezogen auf Formen der „partizipatorischen Demokratie“ war immer noch die Vorstellung vorherrschend, dass den „formalen“ demokratischen Rechten „materielle“ zur Seite gestellt werden müssten: zum Beispiel die Selbst- und Mitbestimmungsrechte im industriellen Sektor. Danach kräht heute kein Hahn mehr.
Hingegen informiert uns die empirische Sozialforschung, dass heute fast alle „außerbetrieblichen“ Formen des Bürgerprotests mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung rechnen können. Mehr noch: Es besteht ein ausgeprägter, freilich oft konsequenzloser Wunsch nach Mitarbeit. Wie Agenda-2000-Gruppen oder aber Menschenrechtsinitiativen zeigen, wird Gemeinwohl dabei jedoch nicht gleichgesetzt mit dem Wohlergehen der eigenen überschaubaren Gemeinschaft – dies ist ein Grundirrtum der kommunitaristischen Schule. Der „Nächste“ im biblischen „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ ist eben nicht der Nachbar, auch wenn Hans-Magnus Enzensberger, Ideologe des deutschen Pfahlbürgertums, genau dies uns nahe bringen möchte.
Angesichts dieser verbreiteten Sorge ums Gemeinwohl ist es erstaunlich, wie wenig die Grünen gegenwärtig mit „Basisdemokratie“ und auf ihr beruhender politischer Partizipation anzufangen wissen. Das hat einen Grund, nämlich eine zu rigorose Kurskorrektur. Ursprünglich war die Idee der „Basisdemokratie“ eine der vier Säulen des grünen Glaubensbekenntnisses gewesen. Sie litt allerdings an einem spezifischen, aus der linken Erbschaft stammenden Fehler: der allzu pauschalen Kritik am Parlamentarismus. Die oben charakterisierte Beziehung des außerparlamentarischen zum parlamentarischen Kampf gründete auf einem eindeutigen Werturteil. Die „Basisdemokratie“ in überschaubaren Lebensbereichen wurde gegen die Parteidemokratie im abstrakten Raum gestellt. Oder genereller: Die Bürgergesellschaft, verstanden als vielfältiger, lebendiger Organismus, stand gegen den Staat, verstanden als Versteinerung einer abgelebten Organisationsform.
Als mit den Wahlerfolgen der Grünen klar wurde, dass diese konfrontative Sicht nicht durchzuhalten war, geriet die Kurskorrektur zum Kahlschlag. Und je mehr die ostdeutsche „Bündnis 90“-Komponente bei den Grünen an Bedeutung verlor, versandeten auch die spezifischen Erfahrungen, die die Bürgerbewegten der DDR für das Verhältnis von Staatsmacht und „Bürgergesellschaft“ in die vereinte Partei hätten einbringen können.
Unter diesen ostdeutschen Erfahrungen rangiert die Idee der Runden Tische an erster Stelle der politischen Einbildungskraft. Was sich zutrug, lieferte gleichzeitig die Bausteine für zwei Kulturen: die des Streits und die der Kompromisse. Denn nicht um bedingungslose Konfrontation ging und geht es im Verhältnis von Staatsmacht und gesellschaftlichen Netzen, sondern um eine „Kultur des Kompromisses“, die allerdings eine „Kultur des Streits“ voraussetzt. Sich kunstvoll zu streiten setzt voraus, den Partner und seine Interessen ernst zu nehmen. Es trifft überhaupt nicht zu, dass die Anti-AKW-Bewegung und ihre verschiedenen Ausläufer aus dem Atomausstieg eine „Alles oder nichts“- oder „Jetzt oder nie“- Sache gemacht haben. Aber sie hatten einen Anspruch auf „vertrauensbildende Maßnahmen“, bekanntlich die Seele jeder Verhandlungsstrategie. Ohne die sofortige Abschaltung einer Reihe von AKWs war das Vertrauen der Bürgerbewegungen eben nicht zu kriegen. Sodass die Umweltaktivisten angesichts der Ergebnisse der Ausstiegsverhandlungen nur mit Lenin ausrufen können: „Es gibt Kompromisse und Kompromisse“!
Vertrauen schön und gut, Bürgerinitiativen und -bewegungen mit politischem Anspruch müssen sich eine gehörige Portion misstrauischer Distanz gegenüber der Staatsmacht bewahren. „Abuse of power comes by no surprise“ steht nicht umsonst seit Jahrzehnten in großen Lettern neben dem Amsterdamer Bahnhof. Die Regierung, auch eine rot-grüne, muss ihren Ehrgeiz in Formen der Verklammerung setzen, die den Initiativen Rechte gewähren, ohne sie zu neutralisieren. Ein wichtiges Instrument wäre die durchgängige Einführung der Verbandsklage bei Umweltprojekten, erweiterte Befugnisse bei der Planfeststellung, obligatorische Konsultationen auf Regierungsebene, ein Mitspracherecht bei internationalen Konferenzen. Die Grünen können nicht der „Arm“ von Umwelt-, Menschenrechts-, Ausländer- und Fraueninitiativen sein. Diese „Doppelstrategie“ hat sich als undurchführbar erwiesen. Aber zu fordern ist erhöhte Stichwort-Durchlässigkeit.
Bedauerlich auch, dass die Bündnisgrünen ausgerechnet Franz Müntefering jüngst den Vortritt ließen, als er seinen (im Übrigen überhaupt nicht begründeten) Vorstoß in Sachen Volksbegehren und Volksentscheid lancierte. Das Terrain für die Einführung dieser wichtigsten institutionellen Klammer zwischen Staatsmacht und Bürgergesellschaft ist mittlerweile argumentativ gut abgesichert. Die Standardgegenargumente (vor allem das unsägliche der Weimarer Erfahrung) sind widerlegt. Im Koalitionsvertrag steht die Forderung außerdem.
Es geht also, wie üblich, um Dialektik – darum, die widersprüchliche Beziehung zwischen der institutionalisierten Politik und den Netzen der Bürgergesellschaft zu entwickeln. Zum Wohle beider.
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