Grüne Jugend über Koalitionsgespräche: „Die Ampel ist kein Automatismus“

Ohne sozialen Ausgleich funktioniere die ökologische Wende nicht, sagen die Bundessprecher der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus.

Die Grüne Jugend möchte dem Koalitionsvertrag nur zustimmen, wenn sich spürbar etwas verändert Foto: André Wunstorf

taz: Frau Heinrich, Herr Dzienus, die Koalitionsverhandlungen laufen seit vergangener Woche. Aber schon jetzt ist erkennbar, wie die Ampel-Politik aussehen wird. Gefällt Ihnen, was Sie sehen?

Sarah-Lee Heinrich: Wenn ich mir das Sondierungspapier anschaue, ist für eine Gruppe ganz klar, dass für sie gesorgt wird: nämlich vermögende und sehr reiche Menschen. Sie brauchen keine Steuererhöhungen zu fürchten. Andere Gruppen, etwa arme Menschen, müssen zittern. Die Ideen, die ihnen nutzen, sind nicht konkret genug. Das muss sich ändern. Wir erwarten von den Koalitionsverhandlungen, dass endlich auch Politik im Interesse all jener Gruppen gemacht wird, die in den letzten Jahren immer wieder vergessen wurden.

Timon Dzienus: Für uns ist klar: Es darf niemand unter die Räder kommen. Auch für Menschen mit geringerem Einkommen muss es deutliche Verbesserungen geben. Sonst macht die Ampel keinen Sinn.

Fangen wir mit dem Klimaschutz an. Fridays for Future sagt, dass das Sondierungspapier für das 1,5-Grad-Ziel nicht reicht. Haben die AktivistInnen recht?

Dzienus: Ein paar erste gute Maßnahmen sind drin. Der Kohleausstieg bis 2030, das Aus für den Verbrennungsmotor, das Bekenntnis, Deutschland auf den 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Das ist eine Abkehr von der Groko-Politik. Aber an einigen Punkten muss nachgeschärft werden.

Wo genau sollte nachgebessert werden?

Dzienus: Es reicht nicht, den Kohleausstieg bis 2030 anzukündigen. Die Koalition muss den Weg dorthin präzise beschreiben, also: Bis wann müssen wie viele Gigawatt vom Netz? Dabei gilt die Maßgabe: Wenn anfangs schnell viel Kohlekraft stillgelegt wird, sind wir hinten raus entspannter. Wir fordern den sofortigen Stopp des Baus aller Autobahnen. Das hilft dem Klima sofort. Das gesparte Geld muss 1:1 in den ÖPNV und den Ausbau des Bahnnetzes gesteckt werden.

Robert Habeck findet es okay, der FDP das Tempolimit zu schenken, weil es für den Klimaschutz vernachlässigbar sei. Wie sehen Sie das?

Dzienus: Das Tempolimit wäre eine „low hanging fruit“ gewesen, also ein sehr einfach umzusetzendes Projekt. Es spart zwei Millionen Tonnen CO2 im Jahr und hätte für niemanden eine ernsthafte Einschränkung bedeutet. Wenn die FDP unbedingt Politik für Autofahrer will, soll sie es an dem Punkt machen. Aber dafür müssen andere Maßnahmen verschärft werden.

Welche Maßnahmen meinen Sie?

Dzienus: Die Erneuerbaren müssen so massiv ausgebaut werden, dass sich Kohlekraftwerke schnell von selbst erledigen. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist extrem wichtig. 55 Millionen Menschen in Deutschland steht kein ausreichender ÖPNV zur Verfügung. Da ist es nur logisch, dass die Leute auf dem Land weiter Autos kaufen. Hier ist mir das Papier zu unambitioniert.

Auffällig ist, dass der CO2-Preis im Sondierungspapier fehlt – und das Energiegeld, das die Grünen als Ausgleich für steigende Energiekosten an die Menschen zurückzahlen wollten. Werden Sie auf diesem Ausgleich bestehen?

Dzienus: Ohne sozialen Ausgleich funktioniert die ökologische Wende nicht. Wir wollen die Einnahmen aus dem CO2-Preis an die BürgerInnen zurückzahlen. Jeder bekäme einmal im Jahr eine automatische Zahlung. Diese Maßnahme ist entscheidend, um alle bei der ökologischen Wende mitzunehmen.

Heinrich: Man kann es noch schärfer formulieren: Eine CO2-Preiserhöhung ohne sozialen Ausgleich tragen wir als Grüne Jugend nicht mit. Klimaschutz darf nicht auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung ausgetragen werden.

Sarah-Lee Heinrich, 20, kommt aus Nordrhein-Westfalen. Seit einem Jahr studiert sie Sozialwissenschaften in Köln. Sie wurde im Oktober zur Bundessprecherin der Grünen Jugend gewählt. Wegen problematischer Tweets, die sie als Teenager verfasst hat, war sie zuletzt Opfer eines Shitstorms in den sozialen Medien.

Timon Dzienus, 25, kommt aus Niedersachsen und studiert Politikwissenschaften in Hannover. Seit Oktober ist er gemeinsam mit Sarah-Lee Heinrich Bundessprecher der Grünen Jugend. Dort ist er seit elf Jahren aktiv. Sein Themenschwerpunkt liegt in Antifaschismus, Innenpolitik, Klima und Arbeitspolitik.

Vertrauen Sie Olaf Scholz beim Klimaschutz? Das Thema hat ihn früher nicht sonderlich interessiert.

Heinrich: Wenn man Klimakanzler plakatiert, muss man auch Klimakanzler sein. Olaf Scholz kann sich nicht mehr herausreden.

Das neue Bündnis verspricht eine Kindergrundsicherung, die Kinder aus der Armut holt. Wie hoch muss sie sein?

Heinrich: Eins ist entscheidend: Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind. Und die Eltern sind arm, weil sie viel zu wenig verdienen. Armut ist keine individuelle Schuldfrage, und man kann Kinderarmut nicht isoliert betrachten. Ich bin selbst mit Hartz IV aufgewachsen – und durfte mir als Jugendliche zum Beispiel nichts dazuverdienen.

Welche Summe halten Sie bei der Kindergrundsicherung für angemessen?

Heinrich: Nach dem Konzept der Grünen gäbe es einen Garantiebetrag von 290 Euro im Monat für jedes Kind, der automatisiert ausgezahlt würde. Dazu gäbe es einen variablen Betrag, je nach Bedürftigkeit. Kinder in armen Familien bekämen so bis zu 547 Euro im Montag. An dieser Summe muss sich die Ampel orientieren.

Die Koalition will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Welche Forderungen haben Sie hier?

Heinrich: Die Sanktionen für Arbeitslose müssen weg, und zwar komplett. Ein System, das bei der Grundsicherung auf Zwang und Strafen setzt, ist menschenfeindlich. Die Jobcenter müssen wertschätzend und auf Augenhöhe mit den Menschen umgehen. Die Hinzuverdienstgrenzen müssen deutlich angehoben werden. Und die Regelsätze müssen steigen. Ein Erwachsener bekommt im Moment 446 Euro im Monat. Damit ist ein würdiges Leben nicht möglich.

Sozialverbände sagen, dass der Regelsatz bei mindestens 600 Euro liegen müsste, um das soziokulturelle Existenzminimum zu gewährleisten. Sehen Sie das auch so?

Heinrich: Ja. Der aktuelle Regelsatz ist künstlich kleingerechnet. Wir brauchen eine ganz neue Berechnung. Die Berechnungen von der Grünen-Bundestagsfraktion und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband liegen zwischen 600 bis 650 Euro im Monat.

Halten Sie das in der Ampel für durchsetzbar? Die Leidenschaft der SPD für höhere Regelsätze ist begrenzt, die der FDP sowieso.

Heinrich: Wir erwarten von SPD und FDP, dass sie Menschen nicht mehr wissentlich unter dem Existenzminimum leben lassen. Sie müssen sich hier zu einem Kurswechsel bekennen, wenn sie mit den Grünen regieren wollen.

Im Grünen-Wahlprogramm wird ein Aufschlag von nur 50 Euro gefordert. Das läge ja auch unter dem Existenzminimum, das Sozialverbände und Sie definieren.

Heinrich: Die 50 Euro wären ein erster Schritt. Weitere Schritte müssten in dieser Legislaturperiode folgen, bis das echte Existenzminimum erreicht ist.

Warum müssen die Sanktionen komplett weg?

Heinrich: Die allermeisten Menschen sind unfreiwillig arbeitslos. Viele finden einfach keinen Job, der zu ihnen passt. Es geht also um ein strukturelles Problem. Individuen dafür zu bestrafen, ist nicht hinnehmbar. Der Ausgangspunkt sollte immer sein,sich zu fragen, was diejenigen in Arbeitslosigkeit gerade brauchen. Das kann ein passendes Jobangebot, eine gute Weiterbildung sein. Manchmal ist es vielleicht auch eine Therapie, weil es ihnen psychisch schlecht geht. Gerade geht es aber vor allem darum, Menschen so schnell wie möglich auf den Arbeitsmarkt zu bringen, auch wenn das 1-Euro-Job und Niedriglohnsektor bedeutet.

Glauben Sie, dass die SPD da mitmacht? Gerhard Schröders Denken, es gebe kein Recht auf Faulheit, steckt tief drin in der Sozialdemokratie.

Heinrich: Arbeitslose sind auch ArbeiterInnen, sie haben nur gerade keinen Job. Eine Partei, die von sich sagt, sie vertrete die ArbeiterInnen, sollte sich das zu Herzen nehmen. Für Arbeitslose zu kämpfen gehört zu linker Politik dazu.

Auf die Frage, ob Jobcenter angesichts steigender Energiepreise die Heizkosten komplett übernehmen sollten, hat Robert Habeck gesagt: „Vollständige Übernahme lädt immer dazu ein, dass man dann die Heizung aufdreht und das Fenster aufmacht sozusagen.“ Wie finden Sie das?

Heinrich: Wir als Grüne Jugend sind für die vollständige Übernahme der Heizkosten durch die Jobcenter. Sie sorgt dafür, dass die Menschen am Ende des Monats noch genug Geld haben, um über die Runden zu kommen. Menschen in Hartz IV handeln nicht per se unverantwortlich oder unvernünftig.

Habeck hat also Unfug erzählt?

Dzienus: Wir teilen seine Position nicht.

Sie vertreten die junge Generation. Welches Thema kommt Ihnen in der bisherigen Debatte zu kurz?

Heinrich: Die Ausbildung fehlt uns. Junge Menschen, die eine Ausbildung machen wollen, können nicht in Unsicherheit gelassen werden, ob sie einen Ausbildungsplatz finden, ob die Vergütung zum Leben reicht. Die nächste Regierung muss deshalb eine umlagefinanzierte Ausbildungsplatzgarantie einführen. Alle Unternehmen würden in einen Fonds einzahlen, der diese Garantie finanziert.

Dzienus: Bei der Mietenpolitik ist das Sondierungspapier viel zu vorsichtig. Da steht nur, dass bisherige Maßnahmen evaluiert und fortgesetzt werden sollen. Aber die derzeitige Mietpreisbremse ist zahnlos. Studierende und junge Familien können jetzt schon in vielen Städten die Mieten nicht mehr bezahlen. Wir wollen ein Mietpreismoratorium oder eine massive Verschärfung der Mietpreisbremse, Maßnahmen also, die die explodierenden Mieten stoppen.

Was tun Sie, wenn Sie Ihre Forderungen nicht durchsetzen können?

Dzienus: Alle Grünen-Mitglieder werden am Ende über den Koalitionsvertrag abstimmen. Die Grüne Jugend hat fast 20.000 Mitglieder. Wir stimmen dem Koalitionsvertrag nur zu, wenn sich für die Menschen spürbar etwas verbessert – und das Klima geschützt wird. Die Ampel ist kein Automatismus.

Sie drohen der Grünen-Spitze?

Heinrich: Uns ist klar, dass die Grüne Partei und die Grünen Ver­hand­le­r*in­nen hinter vielen dieser Anliegen stehen. Das heißt, der öffentliche Druck muss sich auch auf FDP und SPD richten. Die öffentliche Meinung ist bei vielen Themen auf unserer Seite, etwa bei der Mietenfrage. Wir brauchen soziale Verbesserungen, die Menschen in ihrer Lebensrealität spüren. Unser Ziel ist, zu einer Vereinbarung zu kommen, der man zustimmen kann. Aber wenn am Ende ein Bündnis steht, dass im Kern Groko-Politik macht, ist eine weitere Groko ehrlicher.

Würden Sie einen Finanzminister Christian Lindner mittragen?

Heinrich: Zunächst geht es uns darum, dass sich im Koalitionsvertrag sowohl die Investitionen als auch die sozialen Verbesserungen wiederfinden. Daran wird sich dann jeder zukünftige Finanzminister halten müssen. Dass wir die finanzpolitischen Vorstellungen der FDP nicht teilen, ist bekannt und damit sind wir nicht allein, wie man ja letztens im Artikel des Wirtschaftsnobelpreisträgers lesen konnte.

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