: Große Probleme im kleinen
Bei der Habitat-II-Konferenz wollten viele die in anderen UNO-Konferenzen erzielten Einigungen wieder zur Disposition stellen ■ Aus Istanbul Bernd Pickert
Noch drei Stunden vor dem offiziellen Ende der zweiten UN-Konferenz über menschliche Siedlungen (Habitat II) stritten die Delegierten heftig über einzelne Formulierungen. So blieb zunächst unklar, ob es neben der Habitat-Agenda auch eine politische Erklärung geben würde. Der Grund: Die „Istanbul-Erklärung“ sollte in wenigen Worten – und für Medien und Öffentlichkeit leicht verständlich – die Signale zusammenfassen, die von der Habitat II ausgehen.
Dazu hätten die Delegierten allerdings etwas genauer wissen müssen, was sie nun eigentlich sagen wollten: Beide Arbeitsgruppen, die sich mit der endgültigen Ausformulierung der 113 Seiten starken Habitat-Agenda befaßten, hatten die ganze Nacht hindurch getagt und sich nach kurzer Pause am frühen Vormittag wiedergetroffen. Insbesondere Frauenthemen, vom Vatikan und Iran erneut vorgebracht, verhinderten, daß über den Text Einvernehmlichkeit erzielt werden konnte. Da wurde erneut über Gesundheitsfürsorge für schwangere Frauen, Abtreibung und Familienplanung gestritten – alles Themen, die schon die Weltfrauenkonferenz in Peking im vergangenen Jahr und die Bevölkerungskonferenz in Kairo 1994 beschäftigt hatten.
Von Anfang an haben die Verhandlungen in Istanbul unter dem Anspruch gelitten, alles mit allem verbinden zu wollen. Alle Probleme, die auf dem Umweltgipfel in Rio 1992 und den Menschenrechts-, Bevölkerungs- und Sozialgipfeln und der Weltfrauenkonferenz diskutiert worden waren, stellen sich auch als kommunale Themen dar – und gehören somit in den Globalen Aktionsplan von Istanbul.
Es nimmt nicht Wunder, daß all jene, die sich bei den vorangegangenen Gipfeln nicht durchsetzen konnten, jetzt alles daran gaben, die ungeliebten Ergebnisse zu revidieren und die damals umstrittenen Textstellen noch einmal in Klammern setzen ließen – was auf UN-Konferenzen Dissens signalisiert. Sichtlich verärgert bemerkte Bundesbauminister Klaus Töpfer gestern, man streite sich hier um alles mögliche, nur nicht mehr um die eigentlichen Habitat-Themen.
Tatsächlich aber konnten sich die Delegierten auch über die Themen nicht einigen, die nun wirklich neu waren: Da ging es insbesondere darum, die Rolle der Städte auch politisch zu stärken und die kommunale Politik in die UN- Strukturen einzubinden, die bislang nur den Regierungen vorbehalten sind. Dezentralisierung hieß hier das Stichwort. Von der Notwendigkeit zur lokalen Demokratie sollte die Rede sein und von den lokalen Behörden, die gemeinsam mit den Regierungen und Nichtregierungsorganisationen die Zielvorgaben von Habitat II umsetzen sollten. Aber China, meist geeint mit der Gruppe der Entwicklungsländer (G77), legte ein ums andere Mal sein Veto ein. Übriggeblieben ist die Willenserklärung, sowohl die Rolle der Städte zur stärken, so wie es die EU gefordert hatte, als auch die des UN-Habitat-Centers (UNCHS) in Nairobi, wie es die G77 wollte.
Immerhin in der Frage der „nachhaltigen Entwicklung“ konnte Einigung erzielt werden. Diese seit Rio so prägende – wenngleich auch noch immer nicht durch eindeutige Indikatoren klar bestimmbare – Zielvorgabe stand in Istanbul erneut zur Disposition. Die Länder der Dritten Welt, enttäuscht über die nicht eingehaltenen Finanzzusagen, stellten sich auf die Position, erst müsse das gleiche ökonomische Entwicklungsniveau erreicht sein wie im Norden, dann könne man über ökologische Nachhaltigkeit nachdenken.
So forderten sie, die Zielformulierung „nachhaltige Entwicklung“ auf gleiche Stufe mit „wirtschaftlichem Wachstum“ zu stellen. Das wäre ein Rückfall hinter Rio, den die EU nicht akzeptieren wollte – am allerwenigsten der ehemalige deutsche Umweltminister Klaus Töpfer. „Entwicklung in der Zukunft muß anders sein als die Entwicklung früher. Wirtschaftliches Wachstum, so sehr wir es brauchen, kann nicht mehr auf Kosten des ökologischen und sozialen Gleichgewichts gehen“, sagte Töpfer gestern in seiner Abschlußrede vor dem Plenum.
Zu dem Zeitpunkt hatten sich die Delegierten auf eine Formulierung des Kopenhagener Sozialgipfels geeinigt: Nun ist die Rede vom Ziel der „wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und des Umweltschutzes als sich gegenseitig bedingende und verstärkende Komponenten nachhaltiger Entwicklung“.
So etwas kann kaum Begeisterung auslösen. Das blieb gestern dem kurzfristig angereisten kubanischen Staatschef Fidel Castro überlassen. Als einziger Redner auf der fast zweiwöchigen Konferenz vermochte er es, die Delegierten mit einer grundsätzlichen Rede über die Ungleichheit und Ungerechtigkeit der Welt zu minutenlangen stehenden Ovationen zu motivieren.
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