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Größter Kraaker-Prozeß der Niederlande

■ In Groningen wird das Urteil für 139 HausbesetzerInnen gesprochen / 65 Angeklagte wurden mangels Identität mit Nummern versehen / Parallele zum BRD-Paragraphen129a / „Was ist falsch, wenn jemand Hunger hat und sich das Brot nimmt?“

Von Lisette Kranzbühler

Berlin/Groningen (taz) - Praktisch unter Ausschluß der Öffentlichkeit endete am vergangenen Montag im nordniederländischen Groningen der letzte Verhandlungstag im größten Strafprozeß der niederländischen Nachkriegsgeschichte. 139 Personen, die der Polizei bei der Räumung eines Hauskomplexes in Groningen am 27.Mai in die Hände gefallen waren, sollen in dem Verfahren kollektiv für die Straßenkämpfe verantwortlich gemacht werden, die der Räumung vorausgingen. Dazu bedient sich die Staatsanwaltschaft des berüchtigten Paragraphen 140, der, vergleichbar mit dem Paragraphen 129a des BRD-Strafrechts, ganz allgemein die Beteiligung an einer verbotenen Organisation unter Strafe stellt und es den ermittelnden Behörden erspart, die Beteiligung einzelner nachzuweisen. Motto: mitgefangen, mitgehangen!

Der Paragraph 140 ist in den Niederlanden äußerst umstritten. Ein in diesem Monat erwartetes Grundsatzurteil zur Rechtmäßigkeit seiner Anwendung wurde verschoben, sicher nicht ohne Zusammenhang mit dem Groninger Prozeß.

Der Prozeß geht auf die Ereignisse des 26.Mai 1990 zurück. An diesem Tag hatte die Polizei den sogenannten Wolters -Noordhoff-Komplex (WNK) räumen wollen, der seit viereinhalb Jahren besetzt war. Kneipen, eine Volksküche, verschiedene Veranstaltungsräume und Werkstätten fanden hier Raum. Die BesetzerInnen hatten sich entschieden, den Komplex gegenüber einem riesigen, aus dem ganzen Land zusammengezogenen Polizeiaufgebot zu verteidigen. In einem Flugblatt begründeten sie ihre Entscheidung: „Was ist eigentlich falsch daran, wenn jemand Hunger hat und sich das Brot nimmt von jemandem, der frißt bis zu Herzschlag? Oder wenn Obdachlose ein Haus benutzen von jemandem, der zehn Häuser besitzt, die dem Zerfall überlassen oder abgerissen werden? ...Der Rechtsstaat in diesem Land hat nichts mit Gerechtigkeit zu tun, sondern hat nur zum Ziel, die Besitz und Machtverhältnisse zu schützen... Wir werden unsere Häuser nicht verlassen!“

Tatsächlich gelang es den BesetzerInnen, den polizeilichen Angriff zurückzuschlagen. Erst am nächsten Tag, als die Polizei Vorbereitungen traf, Tränengas in das Innere des Hauses zu schießen, stellten sich diejenigen Personen, die zu dem Zeitpunkt darin waren. Alle 139 wurden festgenommen und in den nächsten Wochen in verschiedenen, über das Land verstreuten Gefängnissen festgehalten. Dort wurden sie isoliert, verhört und einige so übel behandelt, daß das Prozeßbüro von Folter spricht.

Die Haftbedingungen und Verhöre haben einige der Gefangenen offenbar so weit eingeschüchtert, daß sie dazu bewegt werden konnten, Aussagen zu machen. Diese Aussagen haben im Prozeß nur wenig Bedeutung, erlauben den Strafverfolgern aber Einblicke in die Struktur der Kraaker-Szene.

Da kein einzelner Tatnachweis geführt werden muß, konnte der Prozeß kurzfristig angesetzt und innerhalb von nur fünf Verhandlungstagen durchgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft fordert für alle Angeklagten neun Monate Haft ohne Bewährung. Am Montag waren die letzten 17 Angeklagten vorgeladen. Wie schon an den anderen Verhandlungstagen verging der ganze Tag damit, daß der Vorsitzende Richter Praktiek alle Versuche der Verteidigung, den politischen Hintergrund der Ereignisse zum Gegenstand des Prozesses zu machen, abschmetterte. So wurde weder Bürgermeister Staatsen noch der Justizpressereferent Ceerds geladen, deren damalige Erklärung, es herrsche „Krieg“, die öffentliche Stimmung maßgeblich geprägt hatte.

Von den 17 vorgeladenen Angeklagten waren 15 erschienen. Vier Personen wurden vom Richter wegen Tragens einer Sonnenbrille und anderem ungebührlichen Verhalten rausgeworfen. Die Identität der Angeklagten ist dem Gericht im einzelnen nicht bekannt.

65 der Festgenommenen konnten von der Polizei nicht namentlich identifiziert werden. Sie wurden für den Prozeß mit einer Nummer gekennzeichnet.

Die ZuschauerInnenbänke waren nur zur Hälfte besetzt. Weder Angehörigen noch FreundInnen war es gelungen, bis in den Prozeßsaal vorzudringen. Das Gericht vergab Einlaßkarten, die vorher schriftlich beantragt werden mußten. So mußte sich die „Öffentlichkeit“ vor dem Gericht versammeln. Dort fand den ganzen Tag über eine Kundgebung mit Infoständen, Musik und Transparenten statt, an der sich 150 UnterstützerInnen und 60 Polizisten beteiligten.

Das Urteil wird am Dienstag verkündet. Sollte es zu einer Verurteilung zu Haftstrafen kommen, dürfte die Polizei allerdings Schwierigkeiten haben, das Urteil zu vollstrecken, zumindest bei den nicht identifizierten, inzwischen freigelassenen Personen. Dafür wären diese Verurteilten dann aber für die kommenden Jahre von allen Ereignissen ferngehalten, bei denen sie in die Hände der Polizei geraten könnten: Bei einer Festnahme würden sie für ein Dreivierteljahr im Knast verschwinden.

Für Montag, am Tag vor der Urteilsverkündung ist eine große Kundgebung geplant. Prozeßinfo:

Steungroep WNC, Steentilstr.38, Groningen/NL, Tel: 0031/ 50/ 133247 (von 11 bis 16Uhr)

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