■ Lutz Bertram, die Stasi und die journalistische Moral: Grobe Raster
„Es war eine Fernsehsendung von historischem Rang“, meint ORB-Intendant Rosenbauer zum Interview mit Lutz Bertram vom Sonnabend, in dem dieser zu seiner Stasi-Verstrickung befragt wurde. Die Möglichkeit einer so offenen Debatte in eigener Sache, findet Rosenbauer, habe es im deutschen Fernsehen zu diesem Thema noch nicht gegeben. Mag sein, daß diese Kategorie zu hoch gegriffen ist, ein Streit darüber ist wohl auch müßig. Viel wichtiger ist, daß dies die letzte Sendung dieser Art bleiben könnte, in der sich ein IM (wenn auch unter erheblichem äußeren Druck) freiwillig der Fernseh-Öffentlichkeit stellt, wenn die Debatte über den Kult-Moderator des ORB so weitergeht, wie sie jetzt gerade angefangen hat.
Es dominiert das Denken in groben Rastern: schuldig oder nicht schuldig, Täter oder Opfer, „Stasi-Mitarbeit ist nun mal Stasi-Mitarbeit“ oder „Fehler gemacht haben wir (Ostdeutschen) doch alle“. Die Berliner Zeitung sieht in der Sendung „Reality-TV von der gefährlichen Sorte“, in der Aufklärung durch den „Terror der Intimität“ ersetzt wurde. Die Junge Welt spricht von „Verhör“, von „Fernsehgericht“, von der „Atmosphäre eines Schauprozesses“. Der Tagesspiegel findet, daß Bertram deswegen ganz gut dasteht, weil er sich „geoutet und alle Schuld zugegeben hat“. Das Neue Deutschland leidet wieder unter Verfolgungswahn und vermutet hinter dem „Fall Bertram“ keine zufällige Zeitplanung, sondern das „Kalkül, DDR-Eliten als frag- und unwürdig hinzustellen“, um deren Platz für „Alt-BRD-Eliten freizuschießen“. Die Zeitung fordert Bertram sogar dazu auf, bloß nicht reumütig in die Defensive zu gehen, sondern es Rolf Kutzmutz gleichzutun („Meine Biographie beginnt nicht erst 1989“), der zu DDR-Zeiten ein unbedeutender IM war und heute für die PDS im Bundestag sitzt. „Wenn Bertram vergleichbar das Zeug hätte, könnte er mal Radio-Brandenburg-Chef Singelnstein ablösen. Oder Brandenburgs TV-Chef Albrecht.“
Die Meinungen der Hörer, die Bertram gestern morgen seine ganze Sendung über anriefen, bewegen sich, bei allen Differenzierungen, die es natürlich auch gibt, zwischen denselben Extremen. Das zeigt überdeutlich, in welchem Dilemma die Debatte über Staatssicherheit und über die deutsch-deutsche Vergangenheit steckt: Vieles wird auf die Stasi und den Unrechtsstaat DDR reduziert, und auf dieser Ebene bleibt es dann auch. Raum und Zeit, die Stasi-Mitarbeit von Bertram zu diskutieren, sich Motive und Hintergründe erklären zu lassen, sie aus seiner Biographie heraus zu verstehen, ohne sie sofort moralisch zu bewerten, bleiben kaum noch. Bertram selbst trägt daran auch schuld, weil er zu vieles im dunkeln läßt; vielleicht hängt das ja mit ersterem zusammen. Allein eine „Stasi-Mitarbeit“ gilt vielen schon als Schuldspruch, und als Reflex darauf erscheint sie im Osten inzwischen immer mehr Leuten als nicht ehrenrührig. Auf diesem Niveau wird dann auch die Frage beantwortet, ob Bertram weiter moderieren oder ob er lieber gehen sollte.
Es sieht alles danach aus, als werde auch in der Debatte um Lutz Bertram wieder mal ein Thema umgangen, das für die Kultur der Diskussion von erheblichem Belang ist: das Verhältnis der Journalisten zur Macht, ihre Unabhängigkeit, ihre Vestrickungen. Für die Journalisten im Osten wäre das ebenso notwendig und wichtig wie für die im Westen, bei aller Unterschiedlichkeit der Problematik.
Bertram ist einer der populärsten Journalisten aus dem Osten, und er hat mit seiner Arbeit das im Westen weitverbreitete Vorurteil widerlegt, unverbrauchte Neugier, hartes Fragen, Unabhängigkeit und gleichzeitige Fairneß seien journalistische Tugenden, die jenseits der Mauer auf immer und ewig verkümmert sind. So gesehen ist Bertram auch ein Beweis für die Lernfähigkeit und Qualität von Leuten, die ihr ideologisch geprägtes journalistisches Handwerk in der DDR gelernt haben. Er repräsentiert mit dem langen Verschweigen seiner Stasi-Tätigkeit zugleich ein Versäumnis des Ost-Journalismus: Eine unbequeme Diskussion über die politischen Verstrickungen, einschließlich der Kontakte zur Staatssicherheit, hat es in den Redaktionen nicht gegeben – von einem kurzem Aufflackern nach dem Herbst 1989 abgesehen. Dazu haben die großen westdeutschen Verlage, die im Osten fast flächendeckend Zeitungen und Zeitschriften aufgekauft haben, aus Opportunismus kräftig beigetragen. Wer Geld verdienen will, kann eine solche Debatte nicht gebrauchen, sie stört nur das Geschäft.
Eine solche Debatte würde wohl im Westen nicht nur das wirtschaftliche, sondern auch das journalistische Geschäft stören. Die Diskussionen über die DDR und die Staatssicherheit haben in den vergangenen fünf Jahren an so gut wie keinem Punkt zur Diskussion der Frage geführt, wie eigentlich der im Westen weitverbreitete Austausch von exklusiven Informationen zwischen Journalisten einerseits und Verfassungsschutz sowie Bundesnachrichtendienst oder anderen staatlichen Organen andererseits zu bewerten ist. Ganz zu schweigen vom Umgang mit Informationen, die die Staatssicherheit über westdeutsche Journalisten in die Öffentlichkeit lanciert hat. Gefälligkeitsjournalisten gab und gibt es Hunderte. Eine Diskussion über ein journalistisches Ethos? Auch im Westen so gut wie Fehlanzeige.
„Schwere gesellschaftliche Traumata, die sehr stark symbolisch aufgeladen sind, können nur symbolisch versöhnt werden“, hat Antje Vollmer vor kurzem gesagt. „Man kann nicht für alle Gerechtigkeit schaffen oder ein gleiches Maß an Sühne. Epochenirrtümer können letztlich nur an Beispielen verarbeitet werden.“ Die Voraussetzung dafür ist allerdings, daß wir uns diese Beispiele vorurteilsfrei zumuten. Die Diskussion um Lutz Bertram zeigt, daß uns das kaum noch gelingt. Jens König
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